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Europawahlergebnis zeigt: Grüne und AfD spiegeln gesellschaftliche Divergenzen und ungleiche Lebensverhältnisse in Deutschland wider

Pressemitteilung vom 21. August 2019

Studie verknüpft Europawahlergebnis mit Strukturdaten der Landkreise und kreisfreien Städte – Grüne dort stark, wo Einkommen hoch sind, Wirtschaft robust ist und Bevölkerung wächst – AfD mit hohen Stimmanteilen in wirtschaftlich schwachen Kreisen, in denen Arbeitsplatzverluste drohen und Menschen abwandern – Langfristige Investitionsstrategie dringend nötig

Die regionale Polarisierung in Deutschland schlägt sich deutlich in den Stimmanteilen bei Wahlen nieder. Das ist die zentrale Erkenntnis einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die das Ergebnis der diesjährigen Europawahl in Verbindung mit Merkmalen der Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland unter die Lupe nimmt. Im Fokus stehen Grüne und AfD, die aus der Opposition heraus die zentralen Wahlkampfthemen setzten, vor allem in der Migrations- und Klimapolitik. Das Kernergebnis: Der Zuspruch für die Grünen ist in wirtschaftlich starken, demografisch jungen und dynamischen sowie wirtschaftsstrukturell soliden Kreisen in Deutschland hoch. Dagegen schneidet die AfD in Kreisen besonders gut ab, in denen die wirtschaftliche Lage weniger gut ist, die Bevölkerung abwandert und die Wirtschaft verwundbarer ist, etwa weil in den nächsten Jahren viele Arbeitsplätze durch Automatisierung und Digitalisierung wegfallen könnten.

„Im Wahlergebnis der Grünen und der AfD bei der Europawahl spiegeln sich die gesellschaftlichen Divergenzen in Deutschland wider, die ihre Ursache vor allem in unterschiedlichen Lebensverhältnissen zwischen verschiedenen Regionen haben“, sagt Alexander Kritikos, Forschungsdirektor am DIW Berlin, gemeinsam mit Marcel Fratzscher und Christian Franz Autor der Studie. „Interpretiert als Signal eines Vertrauensverlusts in die Politik der beiden Regierungsparteien weist das Wahlergebnis und damit auch unsere Analyse darauf hin, dass die Politik in den vergangenen Jahren nicht genug geleistet hat, um möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen. Nötig wäre eine langfristige Investitionsstrategie, damit strukturschwache Regionen nicht noch weiter abgehängt werden“, macht DIW-Präsident Marcel Fratzscher deutlich.

© DIW Berlin

AfD erfährt hohen Zuspruch in Kreisen, in denen seit der Jahrtausendwende viele Menschen abgewandert sind

Für die Untersuchung haben die drei Autoren die Wahlergebnisse der Europawahl 2019 mit Strukturdaten der insgesamt 401 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland verknüpft. Dafür verwendeten sie insgesamt acht Variablen, die die „ökonomische Situation“ (gemessen etwa am verfügbaren Einkommen der Haushalte), die „strukturelle Verwundbarkeit“ (gemessen etwa an der Zahl der heutigen Arbeitsplätze, die künftig durch Maschinen ersetzt werden könnten) und die „demografische Entwicklung“ (gemessen am Alter der Bevölkerung und am Wanderungssaldo) beschreiben.

Demnach steigt die Zustimmung für die Grünen in Kreisen mit positiver demografischer Entwicklung besonders stark, also in Regionen mit vergleichsweise wenigen alten Menschen und höherer Zuwanderung. Auch ist die Partei umso stärker, je besser die ökonomische Situation in einem Kreis, also je höher das verfügbare Haushaltseinkommen ist und je niedriger die Arbeitslosigkeit. Dagegen schneiden die Grünen schlechter ab in Kreisen, in denen das Risiko für Arbeitsplatzverluste aufgrund der fortschreitenden Automatisierung hoch und die Wirtschaft tendenziell kleinteiliger ist. „Die Grünen scheinen insbesondere in Kreisen attraktiv zu sein, in denen das produzierende Gewerbe schwächer und wissensintensive Dienstleistungen stärker vertreten sind“, erklärt Christian Franz, wissenschaftlicher Referent am DIW Berlin.

„Die Grünen scheinen insbesondere in Kreisen attraktiv zu sein, in denen das produzierende Gewerbe schwächer und wissensintensive Dienstleistungen stärker vertreten sind. Bei der AfD ist es genau andersherum. “ Christian Franz, Studienautor

Bei der AfD ist es genau andersherum: Sie erzielt vor allem in solchen Kreisen hohe Stimmanteile, in denen viele Menschen abgewandert sind, mehr Menschen ihren Arbeitsplatz von Automatisierung bedroht sehen, die Bevölkerung überdurchschnittlich alt ist und in denen die wirtschaftliche Lage zu wünschen übrig lässt.

Kurzfristige Maßnahmen, die die Einkommenssituation der Haushalte verbessern, greifen zu kurz

Auffällig ist, dass bei den Grünen wie auch bei der AfD die ökonomische Komponente einen geringeren Einfluss auf das Wahlergebnis hat als die Demografie und die strukturelle Komponente. „Dies spiegelt ganz offenbar die ungleichen Lebensverhältnisse in Deutschland wider“, so Alexander Kritikos. „Wir sprechen dabei über grundlegende Probleme wie Überalterung und Abwanderung, die dringend angegangen werden müssen.“ Nötig seien statt kurzfristig wirkender Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommenssituation der Haushalte eher langfristige Maßnahmen, die Chancen für die Zukunft eröffnen. „Dazu zählen nicht zuletzt eine Stärkung der digitalen Infrastruktur, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, um auf die Digitalisierung einzugehen, und eine ausreichende Finanzierung der Kommunen, damit diese in die Infrastruktur investieren können“, so Fratzscher.

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