Blog Marcel Fratzscher vom 9. Mai 2022
Gut gemeint und schlecht gezielt: 23,6 Milliarden Euro gibt die Bundesregierung für die finanzielle Unterstützung der Bürger aus. Nur kommt die Hilfe bei den Falschen an.
Dieser Text erschien am 9. Mai 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Neun-Euro-Ticket für Bus und Bahn, Energiepauschale und einiges mehr: Die Bundesregierung hat ein weiteres Entlastungspaket beschlossen, um Bürgerinnen und Bürgern mit Blick auf die hohen Energiepreise unter die Arme zu greifen. Vieles dabei ist gut gemeint, aber zu vieles ist nicht gut genug gemacht: Die zwei Entlastungspakete sind zu wenig zielgenau, denn Menschen mit geringen Einkommen sind selbst nach den finanziellen Hilfen noch immer deutlich am stärksten vom Anstieg der Energiekosten betroffen. Und viel zu viele Menschen fallen ganz durch das Raster und erhalten wichtige Leistungen wie die Energiepauschale gar nicht, obwohl sie diese dringend benötigen würden. Die beiden Entlastungspakete sind symptomatisch für die fundamentalen Schwächen der deutschen Sozialsysteme: Sie sind zu wenig an den wirklichen Bedarfen der Menschen orientiert und verteilen zu viel Geld nach dem Gießkannenprinzip.
Die beiden Energie-Entlastungspakete des Jahres 2022 umfassen Hilfen in Höhe von 28,9 Milliarden Euro, mit fast 24 Milliarden Euro kommt der Großteil davon den privaten Haushalten zugute. Neben der Energiepauschale für Erwerbstätige (7,9 Milliarden Euro) und dem vergünstigten ÖPNV-Ticket für drei Monate (drei Milliarden Euro) gehört dazu auch die Abschaffung der EEG-Umlage ab dem 1. Juli 2022 (2,6 Milliarden Euro für private Haushalte), die Erhöhung von Sozialleistungen (1,9 Milliarden Euro), ein einmaliger Bonus beim Kindergeld von 100 Euro je Kind (1,5 Milliarden Euro) sowie die Senkung der Einkommensteuer (4,4 Milliarden Euro).
Eine neue Studie meiner beiden DIW-Kollegen Stefan Bach und Jakob Knautz zeigt die Verteilungswirkungen dieser Entlastungspakete. Der starke Anstieg der Kosten für Strom, Gas und Kraftstoffe macht demnach 3,4 Prozent des Nettoeinkommens eines durchschnittlichen Haushalts in Deutschland aus. Die Entlassungspakete geben diesem durchschnittlichen Haushalt 1,3 Prozent seines Einkommens zurück, sodass die Mehrbelastung durch den Anstieg der Energiepreise unter dem Strich 2,1 Prozent beträgt. Das positive Element an den Entlastungspaketen ist, dass die zehn Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen prozentual, also relativ zu ihrem Einkommen, die größten Hilfen erhalten, sodass die Mehrbelastung durch die höheren Energiepreise für sie gemessen am Einkommen von 6,7 auf rund drei Prozent sinkt. Damit sind die einkommensschwächsten Haushalte in Deutschland aber trotzdem deutlich stärker belastet als die einkommensstärksten: Bei den zehn Prozent der Haushalte mit den höchsten Einkommen entsprechen die Entlastungen nämlich zwar nur 0,7 Prozent ihres Einkommens, da sie aber nur rund zwei Prozent ihres Einkommens mehr für Energie ausgeben müssen, kommen sie unter dem Strich mit einer Belastung von 1,3 Prozent ihres Einkommens deutlich besser weg.
Hier zeigt sich also eine Schwäche der Entlassungspakete, allerdings nicht die einzige: Denn zu viele Menschen, vor allem mit geringen Einkommen, fallen bei den Hilfen teilweise durch das Raster und erhalten wenig bis gar nichts, obwohl manche durch die höheren Energiepreise sehr viel stärker belastet sind als andere Menschen mit dem gleichen Einkommen – beispielsweise, weil sie eine schlecht isolierte Wohnung und eine ineffiziente Heizung haben, oder weil sie auf das Pendeln mit dem Auto angewiesen sind. So zeigt die Studie, dass jede und jeder Vierte unter den zehn Prozent der einkommensschwächsten Haushalte durch die höheren Energiepreise trotz der Entlastungspakete mit mehr als 5,5 Prozent des Nettoeinkommens belastet wird. Gut ein Viertel der ärmsten Haushalte hingegen erhält so starke finanzielle Hilfen, dass sie nach den Entlassungspaketen am Ende des Monats sogar mehr Geld in der Tasche haben als zuvor.
Ein spezifischer blinder Fleck der Entlastungspakete sind die Rentnerinnen und Rentner, die manche Leistungen gar nicht erst erhalten. Offensichtlich bekommen wenige von ihnen den Kinderbonus und nur sehr wenige profitieren von der Subventionierung der Kraftstoffe. Und die allermeisten erhalten auch nicht die Energiepauschale von 300 Euro, weil diese an eine einkommensteuerpflichtige Beschäftigung gekoppelt ist. All dies bedeutet, dass die ärmsten Rentnerinnen und Rentner selbst nach den finanziellen Hilfen fast vier Prozent ihres Einkommens mehr für Energie aufbringen müssen.
Die vielleicht größte Schwäche der Entlastungspakete zeigt sich jedoch in einer anderen Betrachtung: Der größte Teil der 23,6 Milliarden Euro, die die Bundesregierung für die Entlastung privater Haushalte aufbringt, landet nicht in den Taschen der Menschen mit geringen Einkommen und den größten Bedarfen. Sondern bei Menschen mit hohen Einkommen. Denn eine finanzielle Entlastung von 0,7 Prozent für einen Haushalt mit 100.000 Euro Jahreseinkommen bedeutet eine Entlastung von 700 Euro. Dagegen macht eine Entlastung von 3,7 Prozent bei einem Haushaltseinkommen von 15.000 Euro lediglich 555 Euro aus.
Die Bundesregierung hat also nicht alles gut und richtig gemacht bei ihren Entlastungspaketen. In den Maßnahmen spiegeln sich die grundlegenden Schwächen der Sozialsysteme in Deutschland wider, die zu wenig an den Bedarfen der Menschen ausgerichtet sind und zu häufig nach dem Gießkannenprinzip umverteilen. Daher ist ein Register, das ausreichende Informationen über Haushalte enthält und somit sehr viel zielgenauere Hilfen ermöglicht, so essenziell. Gleichzeitig ist manches in den Entlassungspaketen zu sehr von Lobbyinteressen getrieben, wie die Entlastung bei Benzin und Diesel, die teuer ist, den Verbrauch erhöht und hauptsächlich Besserverdienenden zugutekommt.
Bleibt zu hoffen, dass die Politik die richtigen Lehren zieht und in den kommenden Monaten vor allem für Menschen mit großen Bedürfnissen und geringen Einkommen ihre finanziellen Hilfen nachbessert.
Themen: Familie , Ungleichheit , Verbraucher , Verkehr