Warum Deutschland von der Zuwanderung profitiert

Blog Marcel Fratzscher vom 27. Dezember 2022

Die Integration der Geflüchteten aus der Ukraine ist eine Erfolgsgeschichte. Eine neue Studie des DIW Berlin zeigt: Deutschland hat aus vergangenen Fehlern gelernt.

Über eine Million Ukrainer und Ukrainerinnen sind seit Beginn des Krieges nach Deutschland gekommen – für viele fast unbemerkt. Anders als 2015 und 2016 hat die Zuwanderung das Land nicht gespalten und konnte von Populistinnen und Populisten – zumindest bisher – nicht missbraucht werden. Der Prozess der Integration der geflüchteten Menschen aus der Ukraine ist eine ungewöhnliche und beeindruckende Erfolgsgeschichte. Der wichtigste Grund dafür ist nicht die Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Kultur der geflüchteten Menschen, sondern dass wir in Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben und den Menschen eine wirkliche Chance geben, sich in unserem Land zu integrieren. So groß der Verlust dieser Menschen für die Ukraine ist, so groß ist das Glück dieser Zuwanderung für Deutschland, auch wirtschaftlich.

Dieser Text erschien am 23. Dezember 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Eine aktuelle Studie des DIW Berlin, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zeigt ein bemerkenswertes Bild mit Blick auf die ukrainischen Geflüchteten: 80 Prozent der Erwachsenen sind Frauen, die Hälfte aller Frauen ist mit Kindern gekommen, die Schule oder Kinderbetreuung benötigen. Sie sind durchschnittlich deutlich jünger als die deutsche Bevölkerung. Eine Mehrheit möchte arbeiten, und immer mehr finden schon jetzt Arbeitsplätze. Die Fortschritte bei Sprachkenntnissen und sozialen Kontakten sind beachtlich. Und die große Mehrheit der Geflüchteten fühlt sich in Deutschland willkommen.

Deutschland hat nicht die meisten Geflüchteten aufgenommen

Deutschland trägt nicht die Hauptlast bei der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten in Europa, wie vereinzelt behauptet wird. Zwar ist die absolute Zahl der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland die zweithöchste in der Europäischen Union (nach Polen, die bisher mehr als 1,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen haben), relativ zur Bevölkerung liegt Deutschland jedoch eher im Mittelfeld: Die meisten Länder in Zentral- und Osteuropa und selbst Irland haben einen höheren Anteil, wie eine neue Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigt.

Klare Zukunftsperspektive für die Geflüchteten

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass drei Faktoren eine zentrale Rolle für die Integration von Menschen in einem neuen Land spielen: die Fähigkeit, Arbeit zu finden und für sich selbst zu sorgen, die Stärke von sozialen Kontakten und die Kenntnis der einheimischen Sprache. Auch wenn viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der kurzen Zeit bisher noch nicht viel Deutsch lernen konnten, so ist der Fortschritt beeindruckend und vielversprechend. Und die oben genannte Studie mit DIW-Beteiligung zeigt eine hohe Motivation der Geflüchteten, in Deutschland zu arbeiten.

Die Institutionen haben dazugelernt

Was erklärt diesen bemerkenswerten Erfolg der Integration, der aus fast allen politischen Lagern anerkannt wird? Anders als von manchen behauptet, liegt der Erfolg nicht am Geschlecht – Frauen tun sich nicht per se leichter mit der Integration als Männer, zumal viele Ukrainerinnen mit minderjährigen Kindern kommen, die nicht selten traumatisiert sind und Hilfe benötigen. Der Erfolg einer Integration hat auch nichts mit der Hautfarbe oder Religion oder einer vermeintlich größeren kulturellen Nähe zu tun. Der wichtigste Unterschied, wieso sich Geflüchtete nach 2015 so viel schwerer mit der Integration getan haben als die Menschen aus der Ukraine heute, ist das Lernen der Institutionen hierzulande aus der Erfahrung und den Fehlern der Vergangenheit.

Die Anerkennung funktioniert

Die Grundlage für eine erfolgreiche Integration lag und liegt in einer anderen Willkommenskultur und einer klaren Zukunftsperspektive für die Geflüchteten. Sie werden schnell anerkannt, ohne Antrag, können arbeiten, haben Anspruch auf soziale Leistungen, inklusive Arbeitsberatung, und können ihre Kinder zur Schule oder in die Kita schicken. Die Arbeitssuche wird durch die bessere Anerkennung von Qualifikation erleichtert. Die meisten Geflüchteten aus der Ukraine leben nicht in Unterkünften für Geflüchtete – wie das bei so vielen Syrerinnen und Syrern nach 2015 häufig der Fall war –, sondern schon jetzt in privaten Wohnungen. So traumatisiert viele auch sind: Viele erhalten schnell die wichtigste Unterstützung und Möglichkeit, nämlich sich in Deutschland, zumindest temporär, ein neues Zuhause aufbauen zu können.

Die Kommunen müssen besser unterstützt werden

Großer Respekt für diese guten Voraussetzungen und die Veränderungen seit 2016 gebührt den Kommunen und Hunderttausenden von Freiwilligen, die alles Erdenkliche tun, um zu helfen und mit viel Flexibilität den geflüchteten Menschen die Integration zu ermöglichen. Sie erhalten dafür häufig zu wenig Anerkennung, die Kommunen zu wenig Geld von ihren Bundesländern und vom Bund. Bund und Länder müssen dringend die Kommunen besser ausstatten.

Für Deutschland ist es ein Glück, die Ukrainer*innen willkommen zu heißen

Welche Zukunft haben die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland? Mehr als ein Drittel der Geflüchteten will der Studie mit DIW-Beteiligung zufolge dauerhaft in Deutschland bleiben, ein Drittel will nach Kriegsende wieder zurück, und ein Drittel weiß es noch nicht. Realistischer ist wohl, dass langfristig sehr viel mehr Ukrainerinnen und Ukrainer dauerhaft ihr neues Zuhause in Deutschland finden wollen und werden. Je länger der Krieg dauert und je mehr Lebensgrundlagen in der Ukraine zerstört werden, desto mehr Menschen werden nach Deutschland kommen. Viele Ukrainerinnen werden ihre Männer nach Kriegsende nachholen, um ihre Familie in Deutschland wieder vereinen zu können.

All dies ist ein Drama für die Ukraine, die nicht nur vor einem kompletten Wiederaufbau ihres Landes, ihrer Wirtschaft und Infrastruktur steht. Das Problem wird weniger das Geld für den Wiederaufbau sein, sondern vielmehr, dass so viele Ukrainerinnen und Ukrainer mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft das Land verlassen.

Es ist ein großes Glück für Deutschland, Ukrainerinnen und Ukrainer willkommen heißen zu können. Deutschland steht durch seine Demografie und massiv schrumpfende Bevölkerung vor einer wirtschaftlichen Existenzkrise. Schon heute gibt es zwei Millionen offene Jobs, viele Unternehmen suchen händeringend nach Personal. In den kommenden zehn Jahren werden fünf Millionen Beschäftigte altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen. Um diese Lücke zu schließen, muss Deutschland netto (nach Abwanderung) jedes Jahr 700.000 Menschen zusätzlich in den Arbeitsmarkt bringen.

Pflegekräfte aus dem Ausland leisten einen wichtigen Beitrag

Viele unterschätzen die Bedrohung des Wohlstands in Deutschland durch den Fachkräftemangel. Das zentrale Problem durch eine stark abnehmende Zahl von Erwerbstätigen ist nicht, dass dies das Wirtschaftswachstum schwächt und die Staatsfinanzen unter Druck setzen wird. Für viele Unternehmen ist der Fachkräftemangel heute schon eine existenzielle Bedrohung. Unternehmen werden schließen oder ihre Produktion ins Ausland verlagern müssen, wenn sie nicht die Köpfe und Hände bekommen, die sie benötigen.

Dabei "lohnen" sich nicht nur Geflüchtete mit hohen Einkommen wirtschaftlich und finanziell für Deutschland — eine oft gehörte Behauptung nach 2015. Zwar bedeutet die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten, nach Schätzungen der oben genannten IWF-Studie, finanzielle Kosten von knapp 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung in den ersten Jahren. Danach werden diese Menschen jedoch einen deutlich größeren Beitrag leisten, und zwar nicht nur finanziell durch ihre Arbeitskraft, sondern auch gesellschaftlich.

Ein eindrückliches Beispiel ist die Pflege: Deutschland hat einen Pflegenotstand, und der größte Teil der zusätzlichen Pflegekräfte kommt schon jetzt aus dem Ausland. Es ist ein wichtiger Beruf, der meist unterdurchschnittliche Löhne für eine sehr verantwortungsvolle und wichtige Arbeit zahlt. Nicht das Einkommen oder der Bildungsgrad sind entscheidend für den wirtschaftlichen Beitrag von Zugewanderten, sondern deren Chance, durch Arbeit, soziale Kontakte und Sprache Teil unserer Gesellschaft werden zu können.

Stärkere Zuwanderung kann die Fachkräftelücke schließen

Wir werden uns in den kommenden Jahren wohl auf eine noch stärkere Zuwanderung aus der Ukraine einstellen müssen. Dies ist gerade angesichts der Demografie und der riesigen Fachkräftelücke in Deutschland auch wirtschaftlich ein großes Glück für unser Land. Der Erfolg der Integration der Geflüchteten liegt dabei nicht an deren Religion, Hautfarbe oder anderen Kriterien, sondern an unserer Fähigkeit und unserem Willen, diesen Menschen eine wirkliche Chance zu geben, sich in Deutschland zu integrieren und Teil der Gesellschaft zu werden.

Die ersten Schritte der Integration in diesem Jahr sind dabei ein beeindruckender Erfolg – vor allem dank des enormen Engagements so vieler Menschen und einer exzellenten Arbeit der Kommunen. Es ist zu hoffen, dass wir diesen Weg weitergehen und damit auch einen Beitrag zu einem Mentalitätswandel in Deutschland schaffen, der unsere Gesellschaft öffnet und unsere Wertschätzung für Vielfalt erhöht.

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