Blog Marcel Fratzscher vom 10. Januar 2023
Deutsche Konzerne sind hochspezialisiert und resilient. Sie müssen sich jetzt aber beherzt transformieren, sonst ist die Zukunft der Industrie in Gefahr.
Dieser Gastkommentar erschien am 10. Januar 2023 im Handelsblatt.
Kaum eine Woche vergeht ohne Warnrufe von Unternehmen. Wahlweise melden sie akute Existenzängste oder kündigen an, Aktivitäten ins Ausland verlagern zu wollen. Das Schreckgespenst der Deindustrialisierung schwebt durch das Land. Wie ernst müssen wir diese Sorge nehmen? Aktuelle Zahlen deuten nicht darauf hin, dass der Untergang ganzer Industriezweige unmittelbar bevorsteht. Dennoch: Verschläft die deutsche Wirtschaft weiterhin die ökologische Transformation und die Digitalisierung, könnte eine Deindustrialisierung in zehn bis 15 Jahren tatsächlich Realität werden.
Es gibt vier gute Gründe, weshalb eine Deindustrialisierung in den nächsten zwei oder drei Jahren höchst unwahrscheinlich ist. Zuallererst sehen wir derzeit keine Welle von Unternehmensinsolvenzen. Auch wenn zahlreiche kleinere Unternehmen schließen mussten, zeigt sich ein Großteil der Wirtschaft bemerkenswert resilient.
Zweitens ist die Ertragslage vieler mittelständischer und großer Unternehmen in dieser Krise erstaunlich gut. Einige Dax-Konzerne fahren sogar Rekordgewinne ein. Bereits in vorherigen Krisen hat sich die mittelständisch geprägte Struktur der deutschen Wirtschaft als große Stärke erwiesen, weil ein großer Teil der Unternehmen langfristig orientiert und risikoscheu agiert.
Im Allgemeinen hängt der Schaden der Krise für Unternehmen nicht so sehr davon ab, wie sich die Preise ihrer Vorleistungen entwickeln. Wesentlich relevanter ist die Frage, in welchem Maße Unternehmen diese höheren Kosten an ihre Kunden weitergeben können. Aktuelle Erhebungen des Ifo-Instituts zeigen, dass viele Unternehmen nicht nur die höheren Kosten an die Kunden weitergegeben haben, sondern auch ihre Gewinnmargen erhöhen konnten.
Gegen eine kurzfristige Deindustrialisierung in Deutschland spricht drittens die nach wie vor gute Auftragslage und die globale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Seit jeher zeichnen sich viele deutsche Exporteure dadurch aus, dass sie hochspezialisierte Produkte und Leistungen anbieten, die im internationalen Wettbewerb wenig Konkurrenz haben. Dies macht es auch auf globaler Ebene leichter, höhere Preise weiterzugeben und die eigene Marktnische zu bewahren.
Wenn Unternehmen wie BASF große Produktionen ins Ausland verlagern, schürt das die Angst vor einer Deindustrialisierung. Im Grunde bewirken solche Entscheidungen aber genau das Gegenteil: Wenn Unternehmen energieintensive Produktion ins Ausland verlagern, werden sie effizienter und können so auch besser hochproduktive Arbeitsplätze in Deutschland sichern.
Schon in den vergangenen 25 Jahren haben die meisten Dax-Konzerne massiv im Ausland investiert. Dort Arbeitsplätze aufzubauen diente immer auch dazu, den Standort in Deutschland erhalten zu können.
Der vierte Grund bezieht sich auf die Rolle des Staats in der Krise. Die Bundesregierung hat die deutschen Unternehmen finanziell massiv unterstützt – so sehr, dass viele der europäischen Nachbarn zu Recht über einen unfairen Wettbewerb klagen. Kaum ein Industrieland hat in den jüngsten Krisen so große Hilfspakete aufgelegt wie Deutschland. Dabei kommt der größte Teil den Unternehmen zugute, nicht den Privathaushalten, so auch bei den im Rahmen der Gaspreisbremse vorgesehenen Hilfszahlungen.
All das spricht dafür, dass sich diejenigen, die sich um eine mögliche Deindustrialisierung der deutschen Wirtschaft sorgen, nicht zu stark auf die Auswirkungen der gegenwärtigen Krise konzentrieren sollten. Vielmehr gilt es für die Unternehmen in Deutschland, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die ökologische und digitale Transformation entschieden voranzutreiben. Die deutsche Automobilbranche zeigt, wie schnell ehemalige globale Champions ins Hintertreffen geraten können, wenn sie sich auf ihren Lorbeeren ausruhen und den Status quo zementieren wollen.
Die Deindustrialisierung ist eine reale Gefahr. Eine der größten Herausforderungen ist die Bereitstellung einer ausreichenden Menge an erneuerbaren Energien in den kommenden zehn Jahren. Sonst werden die Energiepreise hoch bleiben und sich die Erfolgschancen für die Transformation erheblich verringern. Dafür, dass Unternehmen die ökologische Transformation und Digitalisierung nicht zu zögerlich angehen und ausreichend in ihre eigene Zukunft investieren, muss auch der Staat die passenden Rahmenbedingungen setzen. Schlussendlich liegt es jedoch in erster Linie an den Unternehmen, sich an den neuen wirtschaftlichen Realitäten zu orientieren und sich rechtzeitig von alten Gewohnheiten und Errungenschaften zu lösen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Industrie , Konjunktur , Unternehmen