Blog Marcel Fratzscher vom 27. Dezember 2022
Dieser Kommentar erschien am 27. Dezember 2022 in der WELT.
Treffen die Konjunkturprognosen für 2023 zu, dann steht Deutschland und dem Rest Europas kein schlechtes Jahr bevor. Erwartet wird ein Jahr der Stagnation trotz Kriegs in der Ukraine, Energiekrise und geopolitischer Konflikte. Dieses Bild ignoriert jedoch zwei wichtige Aspekte: Es gibt fünf große Risiken, die jedes für sich genommen die deutsche und europäische Wirtschaft in eine tiefe Rezession treiben könnte.
Und die Ungleichheit, mit der Menschen und Unternehmen von der gegenwärtigen Krise betroffen sind, war selten größer und hatte mehr Potenzial für eine soziale Spaltung.
Zuerst zu den vermeintlich guten Nachrichten: Fast alle Konjunkturprognosen sind sich einig, dass 2023 wirtschaftlich nicht verheerend wird. Fast nichts deutet darauf hin, dass es im kommenden Jahr eine Welle von Unternehmensinsolvenzen geben könnte, die Lieferketten zerstören und viele Tausende Arbeitslose schaffen würde. Ganz im Gegenteil, das Fachkräfteproblem in Deutschland war selten größer und trotz hoher Unsicherheit suchen Unternehmen in praktisch allen Branchen händeringend Beschäftigte. Der Ausblick ist auch deshalb so hoffnungsvoll, da die Regierungen Europas – und allen voran Deutschland – riesige Hilfspakete aufgelegt haben. Und es besteht kein Zweifel, dass – wenn es sein muss – die Bundesregierung aus ihrem ”Doppel-Wumms” einen ”Triple-Wumms” machen wird.
Wirtschaftlich gesehen wird also alles gut, könnte man meinen. Aber dieses Bild ignoriert die Tatsache, dass es selten in den vergangenen Jahrzehnten so viele Risiken gab, die die Wirtschaft nicht nur schwächen, sondern schweren Schaden zufügen könnten. Fünf zentrale Fragen und Risiken sind dabei besonders gefährlich.
Erstens könnte eine Eskalation des Kriegs die europäische Wirtschaft in eine tiefe Rezession oder gar Depression treiben. Die Vorstellung einer Eskalation durch Atomwaffen ist so grauenvoll, dass sich dies niemand vorstellen mag und keine Konjunkturprognose dies sinnvoll erfassen kann. Aber selbst ein konventioneller Krieg, der sich intensiviert und über die Grenzen ausweitet, könnte so viel Unsicherheit schaffen, das Unternehmen ihre Investitionen einstellen und Preise durch die Decke schießen lassen.
Das zweitgrößte wirtschaftliche Risiko ist eine Gas- und Energieknappheit in Deutschland und Europa. Die Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute sieht eine Rezession von bis zu sieben Prozent auf die deutsche Wirtschaft zukommen, sollten manche Unternehmen gezwungen werden, ihre Produktion einzustellen. Zwar hat die Bundesregierung alles getan, um die Gasspeicher zu füllen, aber wenn es weitere Unterbrechungen von Gaslieferungen nach Europa gibt, ist dieses Risiko nicht unwahrscheinlich.
Das dritte Risiko sind erneute Unterbrechungen in den globalen Lieferketten. Mögliche Ursachen sind vielfältig und hängen nicht nur mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Das wohl wahrscheinlichste Szenario ist die Covid-Welle in China, die nach Prognosen des ”Economist” mehr als eine Million Menschen in der Volksrepublik das Leben kosten und zu Unterbrechungen bei der Produktion oder den Transport von wichtigen Vorleistungen führen könnte.
Das vierte Risiko ist ein erneuter Einbruch des globalen Handels, der verschiedene Ursachen haben könnte. Zahlreiche Schwellenländer kämpfen mit Finanzkrisen, da ihre Währungen abgewertet wurden und Kapital abgeflossen ist. Aber auch der Handelskonflikt zwischen den USA und China spitzt sich wieder zu. Deutschland ist besonders anfällig für dieses Risiko durch seine Abhängigkeit vom Handel.
Das fünfte Risiko sind die Inflation und die massiv schrumpfenden Kaufkraft für so viele Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Wenn Menschen 15 oder 20 Prozent mehr ihres Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen, dann haben sie weniger Geld, zu reisen oder einzukaufen. Ein schwächerer Konsum schadet auch den Unternehmen, was in eine Spirale von geringeren Einkommen und sinkender Nachfrage führen könnte.
Und genau hier liegt ein großer blinder Fleck in der Betrachtung des wirtschaftlichen Ausblicks 2023: Selbst wenn diese Risiken nicht oder nur zu einem geringen Maße eintreten, so zahlen Menschen und Unternehmen ganz unterschiedliche Preise für diese Krise. Es wird die soziale Krise weiter verschärfen, da Menschen mit mittlerem geringen Einkommen und Menschen in den ärmsten Ländern und Regionen, sehr viel stärker unter dieser Krise leiden – da sie individuell eine höhere Inflation erfahren, keine Rücklagen und Ersparnisse oder andere Schutzmechanismen haben und weil die Politik ihre Hilfen zu sehr auf Unternehmen fokussiert.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Energiewirtschaft , Geldpolitik , Industrie , Konjunktur , Ungleichheit , Verbraucher