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Der Mindestlohn muss deutlich steigen

Blog Marcel Fratzscher vom 23. Juni 2023

Wegen der Inflation und Energiekrise haben viele Gewerkschaften steigende Löhne durchgesetzt. Und was ist mit dem Mindestlohn? Er müsste mindestens auf 14 Euro steigen.

Um bis zu 16 Prozent werden die Löhne 2024 im öffentlichen Dienst für Beschäftigte mit geringen Löhnen steigen. Dies ist eine erhebliche Steigerung, auch wenn sie für die Beschäftigten immer noch einen Reallohnverlust und damit eine Einschränkung ihres Lebensstandards bedeutet. Die Politik sollte sich generell nicht in die Tarifverhandlungen der Privatwirtschaft einmischen. Aber eine zentrale Entscheidung liegt jetzt in ihrer Hand, die für jeden und jede im Niedriglohnbereich – knapp jeder und jede siebte abhängig Beschäftigte – in den kommenden Jahren eine sehr wichtige für deren Lebensstandard sein wird: Wie stark soll der Mindestlohn erhöht werden?

Dieser Text erschien am 23. Juni 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Ein paar Zahlen und Fakten zeigen, wie hart vor allem Menschen mit geringen Einkommen von dieser Krise betroffen sind. Im Frühjahr 2024 werden die Löhne im öffentlichen Dienst um 200 Euro angehoben und dann ausgehend von diesem Niveau noch einmal um 5,5 Prozent erhöht. Im Durchschnitt aller Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bedeutet dies eine Lohnerhöhung um rund elf Prozent. Für Menschen mit geringen Einkommen – beispielsweise mit 1.900 Euro brutto im Monat in Vollzeit – sind es sogar bis zu 16 Prozent. Hinzu kommen Einmalzahlungen von insgesamt 3.000 Euro.

Lohnerhöhungen um rund elf Prozent im Durchschnitt und um 16 Prozent für Geringverdienende sind erheblich. Sie gleichen jedoch nicht die hohe Inflation in dieser Krise aus. Von 2022 bis 2024 werden die Konsumentenpreise in Deutschland wohl um durchschnittlich mehr als 17 Prozent steigen (sieben Prozent im Jahr 2022, sieben Prozent im Jahr 2023 und drei Prozent im Jahr 2024).

Der zentrale Punkt, der in der Diskussion um Lohnerhöhungen meist ignoriert wird, ist, dass Menschen mit geringen Löhnen und Einkommen eine knapp doppelt so hohe Inflation haben wie Menschen mit hohen Einkommen. Denn Menschen mit geringen Einkommen müssen einen viel höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für die Dinge ausgeben, die in dieser Krise besonders teuer geworden sind: Energie (die um durchschnittlich mehr als 30 Prozent im Jahr 2022 teurer geworden ist) und vor allem auch Lebensmittel.

Konkret bedeutet dies, dass die Preise für Menschen mit hohen Einkommen zwischen 2022 und 2024 vielleicht um circa 15 Prozent steigen, aber für Menschen mit geringen Einkommen und Löhnen häufig um rund 30 Prozent. Es muss betont werden, dass dies grobe Schätzungen sind, da Zahlen für 2023 und 2024 noch nicht vorliegen. Studien belegen jedoch diese unterschiedlichen Größenordnungen für die Krise im Jahr 2022.

Durch diese Zahlen sieht man gut, dass selbst der Anstieg der Löhne um mehr als 13 Prozent (durchschnittlich zwei Prozent im Jahr 2022, null Prozent im Jahr 2023 und elf Prozent im Jahr 2024) zwischen 2022 und 2024 für Menschen mit geringen Löhnen im öffentlichen Dienst noch immer einen starken Reallohnverlust bedeutet, den viele selbst über die nächsten fünf Jahre nicht werden aufholen können.

Mindestlohn müsste bei 14 Euro liegen

Dabei sind die im öffentlichen Dienst Beschäftigten noch nicht einmal am stärksten von dieser Diskrepanz zwischen Inflation und Lohnerhöhungen betroffen, denn dort werden Löhne deutlich über dem Mindestlohn bezahlt. Es sind vielmehr die rund sechs Millionen aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich, vor allem solche mit dem Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde.

Am Montag wird die Mindestlohnkommission ihren Bericht vorlegen und eine Empfehlung über die künftige Höhe des Mindestlohns aussprechen. Aufgabe der Mindestlohnkommission ist es, im Rahmen einer Gesamtabwägung zu prüfen, welche Mindestlohnhöhe geeignet ist, einen angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Dabei orientiert sie sich nachlaufend an der Tarifentwicklung. Wenn man nun also die 16 Prozent Lohnerhöhung für Geringverdienende im öffentlichen Dienst als Orientierung nimmt, dann würde dies eine Erhöhung des Mindestlohns für das Jahr 2024 um knapp zwei Euro, also von 12 auf 14 Euro, implizieren. Dies ist konservativ gerechnet, denn Beziehende des Mindestlohns haben meist Löhne und Einkommen deutlich unter denen der Geringverdienenden im öffentlichen Dienst.

Wie steht es aber um die Beschäftigung? Schon bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 befürchteten viele, dass dieser eine große Zahl an Arbeitsplätzen vernichten würde. Dies hat sich aber empirisch nicht bestätigt.

Beschäftigungsverluste gab es vor allem bei geringfügiger Beschäftigung im Haupterwerb, doch ist hierfür auch zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entstanden. Ein Vorteil ist zudem, dass der Arbeitsmarkt derzeit ein Arbeitnehmermarkt ist. Arbeitskräfte werden händeringend gesucht, sodass selbst bei Entlassungen betroffene Beschäftigte leichter eine neue Tätigkeit finden können sollten. Eine optimale Höhe des Mindestlohns aber, darin sind sich Befürworter wie Gegner einig, lässt sich aufgrund seiner vielfältigen Wirkungsweisen nur schwerlich bestimmen: Die Wirkung auf die Beschäftigungs- und Lohnstruktur ist ein Zusammenspiel von Marktstruktur, Preisüberwälzungs- und Substitutionsmöglichkeiten und unterscheidet sich nach Branche und Region. Daher ist es wichtig und richtig, dass Einführung und sukzessive Erhöhungen des Mindestlohns fortlaufend wissenschaftlich evaluiert werden.

Eine spürbare Erhöhung des Mindestlohns in diesen Krisenzeiten erscheint angemessen. Die Hoffnung und Erwartung vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist, dass die Mindestlohnkommission sich dazu durchringen wird. Wie hoch die Anpassung des Mindestlohns letztlich auch ausfallen mag, eine Warnung gilt es aber zu betonen: Wie Studien des DIW Berlin schon nach der Einführung des Mindestlohns 2015 gezeigt haben, so ist der Missbrauch beim Mindestlohn in Deutschland erheblich. Nicht wenige Arbeitgebende umgehen den Mindestlohn. Damit verschaffen sie sich unlautere Wettbewerbsvorteile gegenüber fair entlohnenden Konkurrenten, verwehren Beschäftigten den ihnen zustehenden Lohn und halten dem Staat dadurch beträchtliche Steuereinnahmen vor. Es ist daher richtig, dass die Bundesregierung nun auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) reagiert und einen Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung vorgelegt hat. Eine manipulationssichere Erfassung der geleisteten Arbeitszeit ist – neben stärkeren Kontrollen durch den Zoll – die wichtigste Stellschraube, um gegen die Umgehung des Mindestlohns effektiv vorzugehen.

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