Blog Marcel Fratzscher vom 8. September 2023
Viele Bürger – selbst Spitzenverdiener – verorten sich in der Mittelschicht, obwohl sie weitaus besser verdienen. Dahinter steckt viel mehr als die Angst vor Neid.
Fast jeder Deutsche zählt sich zur Mittelschicht oder wünscht sich dies zumindest. Aber wie definieren wir die Mittelschicht und wer zählt dazu? Die Sehnsucht, zur Mitte der Gesellschaft zu gehören, und wie eine Gesellschaft diese definiert, sagt viel über die Werte einer Gesellschaft aus, aber auch über individuelle Wahrnehmungen und Fehleinschätzungen.
Dieser Text erschien am 8. September 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Neue Studien zeigen eine erstaunliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Menschen zur Zugehörigkeit zur Mittelschicht und der Realität. Sechs von sieben Spitzenverdienenden in Deutschland zählen sich zur Mittelschicht. Selbst CDU-Vorsitzender Friedrich Merz zählte sich 2018 zur Mittelschicht, obwohl er ein fast siebenstelliges Jahreseinkommen angab. Aber auch Menschen mit sehr wenig Einkommen rechnen sich überwiegend der Mittelschicht zu. Gleichzeitig realisiert die große Mehrheit der Deutschen das Ausmaß der Ungleichheit von Einkommen in Deutschland (PDF) und merkt auch, dass sie zugenommen hat. Es ist also nicht so, dass Menschen die Ungleichheit unterschätzen, sondern sie ordnen sich bewusst oder unbewusst anders in die Verteilung der Gesellschaft ein, als es der Realität entspricht.
Üblicherweise werden gesellschaftliche Gruppen und die Mittelschicht auf Grundlage von Einkommen und Vermögen definiert. Es gibt aber auch andere Zuschreibungen, wie die von Friedrich Merz im Wahlkampf 2018 vorgetragene. Was die Mittelschicht für ihn ausmache, habe er von seinen Eltern mitbekommen, erzählte er in einem Interview. Nämlich: "Fleiß, Disziplin, Anstand, Respekt und das Wissen, dass man der Gesellschaft etwas zurückgibt, wenn man es sich leisten kann." Merz bietet damit eine Alternative zur rein monetären Einordnung an. Für ihn sind Tugenden die Grundlage für die Zuordnung zu gesellschaftlichen Gruppen oder sozialen Schichten. Aber: Was sagt dies dann über all die Menschen aus, die nicht zur Mittelschicht gehören? Sind diese nicht anständig, nicht fleißig und nicht diszipliniert?
Die Zuordnung über Tugenden zur Mitte der Gesellschaft sagt viel über die Werte und über die Definition von Leistung und Leistungsträgerinnen aus. Das setzt sich bis in die politische Diskussion fort – vor allem wenn es um Steuersenkungen geht. Leistungsträger seien solche, die ein hohes Einkommen haben. Aber was sind die vielen Menschen, die genauso hart arbeiten wie Spitzenverdienerinnen, aber in der Pflege, in der Gesundheitsversorgung oder in Kitas arbeiten und dort weniger Einkommen erzielen? Eine Zuordnung über Tugenden ist ausgrenzend und daher ungeeignet.
Die wohl beste Definition von Mittelschicht beruht daher auf dem Einkommen. Eine Ergänzung um Vermögen ist schwierig, da fast 40 Prozent der Haushalte in Deutschland praktisch kein Vermögen haben und somit die Mehrheit der Unterschicht und nicht der Mittelschicht zugeordnet werden müsste. Eine in der Wissenschaft übliche Definition ist, alle Menschen in Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 75 Prozent und 170 Prozent des mittleren Einkommens als Mittelschicht zu definieren. Eine Studie des DIW Berlin zeigt auf dieser Grundlage, dass die Mittelschicht in Deutschland von 63 Prozent in den Neunzigerjahren bis 2015 auf knapp 56 Prozent geschrumpft ist. Die Oberschicht ist in diesem Zeitraum von elf Prozent auf 18 Prozent angewachsen. Die Unterschicht mit weniger als 75 Prozent des mittleren Einkommens ist von 25 Prozent auf 32 Prozent angewachsen. Auch wenn es noch keine neuen Zahlen für die Zeit nach der Corona-Pandemie gibt, so deutet vieles darauf hin, dass sich dieses Schrumpfen der Mittelschicht fortgesetzt hat.
Was sind die Ursachen für das Schrumpfen der Mittelschicht? Die zentrale Erklärung ist die Zunahme prekärer Arbeitsformen, unter anderem in Form von Teilzeitarbeit wie Minijobs, in denen sieben Millionen Menschen beschäftigt sind. Hinzu kommt eine seit den Neunzigerjahren steigende Ungleichheit bei den Löhnen und die ungewöhnlich starke Belastung von Arbeit durch Steuern und Abgaben, die die Arbeitsanreize reduzieren. Kaum ein Land besteuert Arbeit so stark und Vermögen so gering wie Deutschland. Dies macht es auch für Menschen mit geringen Einkommen schwer, durch Arbeit das eigene Einkommen zu erhöhen, Vermögen aufzubauen und in die Mittelschicht zu rücken. 60 Prozent aller Vermögen in Deutschland wurden geerbt – der Aufbau von Vermögen hängt somit mehr vom Glück der Geburt ab als von der eigenen Leistung und Anstrengung.
Wieso zählen sich dann so viele Menschen in Deutschland zur Mittelschicht, obwohl sich nur wenig mehr als die Hälfte dazu zählen lassen?
Eine mögliche Erklärung ist die Fehleinschätzung. Menschen vergleichen sich mit anderen in ihrem sozialen und beruflichen Umfeld. Ein Beschäftigter mit einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro gehört objektiv zu den fünf Prozent der Topverdienenden, mag sich aber unter Freunden und Bekannten, die ähnlich gut verdienen, nicht wie jemand aus der Oberschicht fühlen. Und ein Arbeiter mit 30.000 Euro Jahreseinkommen mag sich in seinem Umfeld durchaus als jemand mit einem mittleren Einkommen empfinden.
Was würden Sie schätzen, mit welchem Jahreseinkommen (genauer gesagt: mit welchem Nettoäquivalenzeinkommen) eine vierköpfige Familie in Deutschland zur Mittelschicht zählt? In welcher Spanne liegen also in Deutschland die Gehälter von mehr als 70 Prozent und weniger als 200 Prozent des mittleren Einkommens (also eine etwas breitere als übliche Definition der Mittelschicht)? Die Antwort: Wer zwischen 36.700 Euro und 97.900 Euro Nettojahreseinkommen verdient, gehört zur Mittelschicht. Manch eine Leserin oder mancher Leser mag erstaunt sein, dass jemand mit 36.700 Euro schon zur Mittelschicht gehört und dass es fast 30 Prozent der Haushalte gibt, die äquivalenzgewichtet weniger verdienen. (Zur Erklärung: "Äquivalenzgewichtet" bedeutet hier "angepasst nach Haushaltsgröße", denn ein Haushalt mit mehr Mitgliedern hat proportional weniger Kosten und benötigt entsprechend weniger Einkommen, um zur Mittelschicht zu zählen.)
Aber dies ist nur ein Teil der Erklärung. Viele mögen sich ihrer hohen oder vergleichsweise geringen Einkommen sehr wohl bewusst sein und die Zuordnung zur Mittelschicht mag eher den Wunsch nach Gemeinschaft spiegeln und danach, kein Außenseiter zu sein. Zudem sind sowohl Armut als auch Reichtum in unserer Gesellschaft häufig mit einem Stigma verbunden. "Über Geld spricht man nicht", heißt es noch immer. Und vor allem Spitzenverdiener tun sich häufig schwer, ihr Gehalt offen zu kommunizieren, denn sie haben Sorge, damit Kritik oder Neid hervorzurufen.
Die große Mehrheit wünscht sich, zur Mittelschicht unserer Gesellschaft zu zählen. Auch Spitzenverdiener wollen Mitte sein. Die bewusste oder unbewusste Fehleinschätzung spiegelt die Werte der Gesellschaft und zeigt, wie stark der Wunsch nach sozialer Teilhabe und Gemeinschaft verankert ist. Die traurige Wahrheit aber bleibt, dass die Mittelschicht in Deutschland schrumpft und zwar schneller als in den meisten vergleichbaren Ländern. Dabei hängt die Frage, ob jemand Teil der Mittelschicht oder gar der oberen Mittelschicht ist, immer weniger von der geleisteten Arbeit und eigenen Anstrengungen ab, sondern immer stärker von Erbschaften und der Lotterie der Geburt.
Themen: Öffentliche Finanzen , Steuern , Ungleichheit , Verteilung