Blog Marcel Fratzscher vom 19. Januar 2024
Migranten sind laut einer Studie ein Minusgeschäft für den Staat. Das ist absurdes, menschenfeindliches Nullsummendenken.
Migrantinnen und Migranten seien eine untragbare finanzielle Belastung für Deutschland, ist das Ergebnis einer neuen Studie der Stiftung Marktwirtschaft. Die Studie (PDF) dürfte die Rechtsextremen und den Populismus weiter befeuern, zumal die Stiftung Marktwirtschaft den Autor der Studie so zitiert, als seien die finanziellen Verluste der Migration vor allem auf "ungesteuerte und irreguläre Migration zurückzuführen".
Eine ehrliche Analyse dagegen zeigt, dass Migrantinnen und Migranten zwar kurzfristig eine erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Belastung für Deutschland bedeuten, jedoch langfristig einen essenziellen Nutzen auch für die Wirtschaft schaffen, ohne den viele Unternehmen nicht überleben könnten und viele Bürgerinnen und Bürger empfindliche Einschnitte ihres Wohlstands erleben müsste.
Diese Kolumne erschien am 19. Januar 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Studie der Stiftung Marktwirtschaft, durchgeführt von deren Vorstand Professor Bernd Raffelhüschen, nimmt eine sogenannte Generationenbilanzierung vor, welche die Ausgaben des Staates – etwa für Rente, Bildung oder Kindergeld – mit den Zahlungen von Steuern und Sozialabgaben über die Lebenszeit der einzahlenden Menschen vergleicht. Nicht überraschend: Kinder und Jugendliche sind ein riesiges finanzielles "Verlustgeschäft" für den Staat, da sie nicht arbeiten und keine Steuern zahlen, aber das Bildungssystem und anderes für sie viel Geld kostet. Erwerbstätige Erwachsene dagegen lohnen sich finanziell für den Staat, wogegen Rentnerinnen und Rentner wiederum den Staat netto für Rente und Gesundheit viel mehr Geld kosten, als sie an Steuern einbringen. Migrantinnen und Migranten, besagt die Studie, seien für den deutschen Staat ein besonders großes Verlustgeschäft, da sie durchschnittlich weniger Einkommen haben als Deutsche und somit auch weniger Steuern zahlen. Selbst die Zuwanderung von besser verdienenden Migrantinnen und Migranten würde laut Studie an diesem Resultat nichts grundlegend ändern.
Die Studie begeht einen grundlegenden Denkfehler, sodass die Resultate nicht nur falsch sind, sondern die Fakten verdrehen. Der Denkfehler ist die Absurdität der Behauptung, die Generationenbilanzierung könnte etwas Valides über den wirtschaftlichen oder finanziellen Verlust eines Menschen für Wirtschaft oder die Sozialsysteme aussagen. Wenn man diese Betrachtung ernst nimmt, dann sind auch 70 Prozent der Deutschen ohne Migrationsgeschichte – nämlich alle Menschen mit mittleren und geringeren Einkommen – ein solches Verlustgeschäft. Ein Gedankenexperiment offenbart die Absurdität des Arguments: Was wäre, wenn die 70 Prozent, die eine finanzielle Belastung darstellen, aus Deutschland auswandern würden? Nach der Logik der Studie würde dies bedeuten, dass der deutsche Staat riesige Überschüsse machen würde, sodass er den verbleibenden 30 Prozent noch höhere Renten oder andere Leistungen zahlen könnte. Nur dann wären wiederum viele der verbleibenden 30 Prozent – nämlich die, die vergleichsweise weniger verdienen – ein finanzielles Verlustgeschäft. Wenn man dies zu Ende denkt, dann leuchtet sofort ein, dass ein Land, in dem nur Hochvermögende leben, nicht funktionieren kann: Wer produziert die Lebensmittel, wer erbringt die Dienstleistungen der Hochvermögenden, wer kümmert sich um die Sicherheit und die Grundversorgung?
Der Denkfehler der Studie ist ein sogenanntes Nullsummendenken, also dass staatliche Ausgaben für Bildung, Rente oder Migrantinnen automatisch einen Verlust und gleich hohe Einschnitte der Leistungen für andere Menschen erfordert. So funktioniert keine Wirtschaft. Kein Unternehmen kann ohne Beschäftigte mit geringeren Qualifikationen und Einkommen existieren und produzieren. Als Beispiel: Eine Pflegekraft, die sich um alte und kranke Menschen kümmert, ist nach der Logik der Studie ein finanzielles Verlustgeschäft für Deutschland und würde daher besser das Land verlassen oder wäre gar nicht erst gekommen. Denn eine Pflegekraft hat ein mittleres bis geringes Einkommen und wird in ihrer Lebenszeit mehr staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, als sie selbst an Steuern und Abgaben zahlt.
Wir sehen jedoch, wie groß der wirtschaftliche und finanzielle Schaden für Unternehmen, für den Staat und für Menschen in Deutschland ist, da so viele Pflegekräfte fehlen. Viele Familienangehörige, vor allem Frauen, müssen ihre Arbeitszeit reduzieren, um Angehörige pflegen zu können, da keine Pflegekräfte vorhanden sind oder die Pflege zu teuer ist. Dies vergrößert das Fachkräfteproblem in Deutschland weiter. Beides führt wiederum dazu, dass Beschäftigte und Unternehmen weniger Steuern zahlen und somit auch dem Staat viele Einnahmen entgehen.
Die Schwäche der Studie aus der Stiftung Marktwirtschaft ist, dass sie nur manche Leistungen und Steuern betrachtet, aber die vielen positiven Effekte von Zuwanderung ignoriert: Zugewanderte Pflegekräften aus dem Ausland etwa ermöglichen es vielen Deutschen erst, zu arbeiten oder mehr Stunden arbeiten zu können. Die Pflegekräfte selbst geben ihr Einkommen in Deutschland aus und schaffen dadurch eine zusätzliche Nachfrage, wovon wiederum viele deutsche Unternehmen profitieren und der Staat höhere Steuereinnahmen erzielt.
Kaum jemand in Deutschland würde fordern, dass ausländische Pflegekräfte Deutschland verlassen sollen, weil sie für den deutschen Staat eine finanzielle Belastung darstellten. In anderen Worten: Ohne Migration und Zuwanderung könnte Deutschland als Gesellschaft nicht funktionieren und die Wirtschaft würde einen erheblichen Schaden erfahren.
Breiter Konsens besteht darin, dass Deutschland deutlich mehr Zuwanderung von hoch qualifizierten Menschen benötigt. Wenn Deutschland mehr hoch qualifizierte Migrantinnen und Migranten anziehen will, dann muss es eine Willkommenskultur entwickeln und deutlich attraktiver für Zuwanderung werden. Der Versuch, lediglich attraktiv für hoch qualifizierte Menschen aus dem Ausland zu sein, andere jedoch schlecht zu behandeln, wird nicht funktionieren, sondern lediglich dazu führen, dass noch weniger hoch qualifizierte Menschen kommen, da sie weltweit viele Optionen haben.
In einer Studie von 2015 habe ich mit meinem Co-Autor Simon Junker anhand von Szenarien argumentiert, dass die Beschäftigung der Schlüssel für den wirtschaftlichen Beitrag eines Menschen ist – unabhängig von der Herkunft. Jeder Erwerbstätige, egal ob er oder sie zu Mindestlohn arbeitet oder zu den Spitzenverdienern gehört, trägt einen auch wirtschaftlich wertvollen Beitrag zu Wirtschaft und Gesellschaft bei. Gleichermaßen ist die Integration in den Arbeitsmarkt der zentrale Schlüssel auch für die gesellschaftliche Integration von Menschen.
Menschen können nicht nach ihrem vermeintlichen finanziellen Beitrag zu Staat und Gesellschaft bewertet werden. Wirtschaft und Gesellschaft sind kein Nullsummenspiel, bei dem der Nutzen des einen der Verlust des anderen ist. Ganz im Gegenteil: Wohlstand, Demokratie und Frieden sind nur deshalb möglich, weil Menschen voneinander profitieren und nur als Gemeinschaft stark sein können. Die Aufnahme und Integration von Geflüchteten wird Deutschland kurzfristig Geld kosten und ist eine Herausforderung. Aber genauso zutreffend ist, dass Solidarität und eine erfolgreiche Integration von Migrantinnen und Migranten in Arbeitsmarkt und Gesellschaft mit die klügste Zukunftsinvestition sind, die Deutschland heute tätigen kann.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Migration , Öffentliche Finanzen , Steuern