Blog Marcel Fratzscher vom 5. August 2024
Es hält vom Arbeiten ab, und vor allem bekommen es Ausländer*innen: Kaum eine Sozialleistung wird aktuell so heftig diskutiert wie das Bürgergeld. Aber stimmen die Vorwürfe?
Wieder einmal ist eine hitzige Debatte zum Bürgergeld entbrannt: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann will es Arbeitsunwilligen streichen. CSU-Chef Markus Söder beschreibt das Bürgergeld als "großen Fehler der Ampel". Die AfD hetzt gegen das Bürgergeld, und die Bild-Zeitung skandalisiert die Kosten und die Tatsache, dass fast die Hälfte der Empfänger*innen Ausländer*innen sind. Daher ist es wichtig, die Fakten offen auf den Tisch zu legen, den Reformbedarf ehrlich anzusprechen und den Populismus falscher Argumente zu entlarven.
Diese Kolumne erschien am 2. August 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Zu den Fakten: In Deutschland beziehen knapp 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld zur Abdeckung des Existenzminimums. Ein erster Mythos ist die Behauptung, dies seien allesamt Menschen, die arbeiten könnten, aber nicht wollen. Fakt ist, dass 1,8 Millionen, also ein Drittel, davon Kinder und Jugendliche sind. Hinzukommen mehr als zwei Millionen Menschen, die dem Arbeitsmarkt nicht für (weitere) Arbeit zur Verfügung stehen. Darunter befinden sich knapp 800.000 sogenannte Aufstocker, also Menschen, die sehr wohl arbeiten, aber mit ihrer Arbeit so wenig Einkommen erzielen, dass sie zusätzliches Geld vom Staat benötigen. Dazu zählen auch Menschen wie Alleinerziehende, die Sorgearbeit und Beruf nicht unter einen Hut bekommen können, weil es beispielsweise an Betreuungsplätzen für ihre Kinder fehlt.
Von den 5,5 Millionen Empfänger*innen bleiben also 1,7 Millionen Menschen, die arbeitslos sind und prinzipiell arbeiten könnten. Ohne Zweifel ein erhebliches Potenzial für den Arbeitsmarkt. Die Kritiker*innen haben also einen wichtigen Punkt, wenn sie einfordern, dass der Staat dieses Potenzial besser heben muss – zugunsten von Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Betroffenen selbst.
Aber auch von diesen 1,7 Millionen verweigert nur eine kleine Minderheit die Arbeit. Für die große Mehrheit liegt das Problem anderswo: Knapp zwei Drittel dieser Menschen haben keinen Berufsabschluss, in vielen Fällen noch nicht einmal eine Schulausbildung, und die meisten haben gesundheitliche Probleme. Mit keiner noch so guten Unterstützung durch die Jobcenter und mit keiner noch so großen Motivation der Betroffenen kann das Hauptproblem für deren Integration in den Arbeitsmarkt gelöst werden: Potenzielle Arbeitgeber stellen diese Menschen häufig nicht ein, weil die Kosten und Risiken zu groß sind. Und wenn Arbeitgeber es doch wagen, dann passiert es allzu häufig, dass die Betroffenen nach wenigen Monaten wieder in Arbeitslosigkeit und Bürgergeld landen.
Genau hier setzen einige Reformen und Weiterentwicklungen von Hartz IV zum Bürgergeld an: Menschen sollen nicht per se so schnell wie möglich in irgendeine Arbeit kommen, sondern sie sollen in eine Arbeit kommen, die ihnen eine realistische und dauerhafte Perspektive bietet. Der sogenannte Vermittlungsvorrang in Arbeit wurde abgeschafft, damit die Betroffenen die Chance haben, sich zu orientieren, zu qualifizieren und eine passende Arbeit zu suchen. Das ist im Sinne aller: der Betroffenen, der Unternehmen und auch des Sozialstaats.
Der Vorwurf lautet: Der Lohnabstand zum Bürgergeld ist nicht groß genug. Selbst hochrangige Politiker*innen wie der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann werden nicht müde, die Behauptung stets zu wiederholen, Bürgergeldbeziehende hätten am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche als arbeitende Menschen. Die Behauptung ist schlichtweg falsch, denn auch Menschen mit Niedriglohn stehen Sozialleistungen zu und haben dadurch immer und in jeder Konstellation – von einem Single bis hin zu einer Großfamilie – mehr Geld als Menschen im Bürgergeld. Dies zeigt eine Studie des ifo Instituts ebenso wie viele andere Studien.
Es lohnt sich, die Höhe des Bürgergelds einmal einzuordnen: Bürgergeldbezieher*innen leben in Armut. Sie gehören zu den knapp 13 Millionen Menschen in Deutschland, die unter der Armutsgrenze leben. Es kann also keine Rede davon sein, dass sie in üppigen und großzügigen Verhältnissen leben.
Auch die Behauptung, der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeitslohn sei kleiner geworden, ist falsch. Seit Einführung des Mindestlohn 2015 sind die Einkommen im Niedriglohnbereich sogar etwas schneller angewachsen als die Bezüge im Bürgergeld. Und jeder, der sich mit der Berechnung des Bürgergelds auseinandersetzt, weiß warum: weil die Berechnung des Bürgergelds an die Lohnentwicklung im Niedriglohnsektor gekoppelt ist. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht angemahnt: Es gehört zur Pflicht von Staat und Gesellschaft, alle Menschen mit einem angemessenen Existenzminimum auszustatten.
Um dies klar zu sagen: Es gibt durchaus Menschen, die Sozialbetrug betreiben und Bürgergeld beziehen, aber gleichzeitig Jobangebote ablehnen oder sich Leistungen erschleichen. Dies darf ein Staat nicht akzeptieren, er muss mit aller Konsequenz des Gesetzes dagegen vorgehen. Wie auch eine unserer Studien am DIW Berlin zeigt, bewerten Jobcenter-Mitarbeiter*innen insbesondere die Sanktionsmöglichkeiten beim Bürgergeld skeptisch. Die Mitwirkungspflichten der Bezieher*innen sollten verbessert und die Sanktionsmöglichkeiten für Totalverweigerernde gestärkt werden – was die Bundesregierung bereits umsetzt. Das fordern übrigens auch Bürgergeldbeziehende selbst.
Fakt ist jedoch auch, dass die Totalverweigernden eine kleine Gruppe sind: Gemessen an den Sanktionen sind das etwa 16.000 von den 5,5 Millionen Beziehenden. Dies sind 16.000 zu viel, aber sie sind mit 0,4 Prozent eben auch eine verschwindende kleine Minderheit aller Bürgergeldbeziehenden. Auch daher ist der Populismus gegen Menschen im Bürgergeld so perfide: Es wird eine große Mehrheit in Kollektivhaftung für eine kleine Minderheit genommen und ihre legitimen Bedürfnisse dadurch delegitimiert.
Ein weiterer Punkt, der in der Kritik am Bürgergeld gerne angeführt wird, ist die Tatsache, dass heute fast die Hälfte der Beziehenden aus dem Ausland kommt. Hierzu zählen auch die mehr als 1,1 Millionen ukrainischen Geflüchteten, die nach Ankunft sofort arbeiten und notfalls Leistungen des Bürgergelds beziehen dürfen. Laut Bundesregierung bezogen 722.000 Ukrainer im März 2024 Bürgergeld. Mehr als 200.000 davon sind jedoch Kinder, knapp 320.000 sind in Ausbildung, Schule, Umschulung, Eingliederung in einen Betrieb oder sind Aufstockende. 186.000 ukrainische Geflüchtete gelten als arbeitslos.
Dies ist eine deutlich kleinere Zahl, als häufig kolportiert wird. Man muss sie nicht als negativ bewerten, sondern sollte in ihr eine Chance sehen: Die große Mehrheit der Geflüchteten möchte arbeiten und sich in Deutschland integrieren. Es gibt ein großes Potenzial für den Arbeitsmarkt, wenn durch den Abbau der vielen Hürden – von der Anerkennung von Qualifizierungen, über rechtliche Hürden und Wohnsitzauflagen bis hin zu Sprachkenntnissen – Geflüchtete schneller in Arbeit kommen. Es gibt viele Erfolgsgeschichten: So sind beispielsweise 86 Prozent der zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland geflüchteten Männer heute in Beschäftigung– dies ist eine höhere Quote als im restlichen Teil in Deutschland: Die Erwerbstätigenquote der männlichen Bevölkerung zwischen 18 bis 64 Jahren lag im vergangenen Jahr bei 83,6 Prozent.
Die Einführung des Bürgergelds war ein Schritt in die richtige Richtung, vor allem weil es einen stärkeren Fokus darauf legt, Menschen dauerhaft und in gute Arbeit zu bringen. Die größte Herausforderung bei den arbeitslosen Beziehenden sind fehlende Qualifizierungen und gesundheitliche Probleme sowie die nach wie vor zu hohen bürokratischen Hürden, um Geflüchtete schneller und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Verteilung