Blog Marcel Fratzscher vom 9. August 2024
Die Mütterrente abzuschaffen, würde die Probleme der Rentenversicherung nicht lösen. Es braucht eine Grundrente und höhere Renten für Menschen mit niedrigen Einkommen.
Im Zuge der Haushaltsverhandlungen sind auch Stimmen laut geworden, die Reformen in der Rentenpolitik und insbesondere eine Abschaffung der Mütterrente fordern. Der Streit über die Mütterrente zeigt, dass die Verteilungskämpfe Deutschland in den kommenden Jahren weiter spalten werden, vor allem in Bezug auf die Generationengerechtigkeit gegenüber jungen Menschen.
Diese Kolumne erschien am 9. August 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Welche Konsequenzen eine Abschaffung der Mütterrente hätte, hat jüngst eine Studie des DIW Berlin analysiert. Die Mütterrente wurde 2014 auf Drängen von CDU/CSU eingeführt, im Jahr 2019 erhöht, zudem wurden die Leistungen angepasst. Sie soll Frauen, die Kinder vor 1992 geboren haben, nicht mehr gegenüber Müttern mit Geburten ab 1992 benachteiligen, die mehr Kindererziehungszeiten angerechnet bekommen. Durch die Mütterrente erhalten auch Frauen der älteren Jahrgänge Rentenansprüche, selbst wenn sie wegen Kindererziehung nur eingeschränkt erwerbstätig waren. Die Mütterrente kostet die Rentenversicherung knapp 13 Milliarden Euro im Jahr und kommt 8,7 Millionen oder 86,5 Prozent aller Rentnerinnen zugute. Im Schnitt erhöht sie die Bruttorenten der Rentnerinnen um etwa 85 Euro im Monat, sodass diese bei 830 Euro liegt. Kurzum: die Mütterrente leistet einen beträchtlichen Anteil der Rentenleistungen, kostet die Rentenversicherung aber eine erhebliche Summe Geld.
Die Studie des DIW Berlin zeigt, dass die Armutsrisikoquote unter älteren Frauen bei durchschnittlich 19,4 Prozent liegt, bei Müttern mit vier oder mehr Kindern gar bei mehr als 30 Prozent. Eine Abschaffung der Mütterrente würde primär Rentnerinnen mit geringen Einkommen treffen und das Armutsrisiko um 14,4 Prozent erhöhen. Der ohnehin schon hohe Gender Pension Gap – also der finanzielle Unterschied zwischen Männern und Frauen bei der gesetzlichen Rente – stiege von 32 auf 39 Prozent. Die Konsequenzen der Abschaffung der Mütterrente würde somit die soziale Schere und die Ungleichheit bei den Renten deutlich vergrößern.
Die Kritiker der Mütterrente haben in einem wichtigen Punkt recht: Die Mütterrente ist eine sogenannte versicherungsfremde Leistung, weil die Frauen für ihre Leistung keine Beiträge eingezahlt haben, sie aber trotzdem (weitgehend) über die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV), also die Beitragszahler*innen, finanziert wird. Dies gilt natürlich grundsätzlich für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Zudem verweisen Kritiker*innen auf die mittlerweile fast 110 Milliarden Euro, die die Gesellschaft zusätzlich aus Steuermitteln zur Rentenversicherung zuschießt. Das sind 2,5 Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung und fast ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts. Und diese Tendenz steigt mit der anstehenden Verrentung der vielen Babyboomer.
Die Debatte um die Mütterrente ist letztlich nur eine Scheindebatte, da sie gesetzlich voraussichtlich nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Sie offenbart aber die zwei zentralen Dilemmata der Rentenpolitik: die Verteilungswirkungen zwischen Arm und Reich und zwischen Jung und Alt.
Schaut man sich die Verteilung zwischen Arm und Reich an, so gibt es kaum eine reiche Volkswirtschaft, die Menschen mit geringen Lebenseinkommen im Vergleich zu solchen mit hohen Einkommen eine so geringe gesetzliche Rente zugesteht wie Deutschland. In den meisten Industrieländern erhalten Menschen mit geringeren Lebenseinkommen proportional zu ihrem Einkommen (und den eingezahlten Rentenbeiträgen) eine höhere gesetzliche Rente als Menschen mit hohen Einkommen. Dies ist in Deutschland nicht der Fall, weil man an dem sogenannten Äquivalenzprinzip festhält: Jeder eingezahlte Euro an Rentenbeiträgen erzielt die gleiche monatliche Rentenanwartschaft, egal ob der Stundenlohn beim Mindestlohn von 12,41 Euro gelegen hat oder bei 100 Euro.
Das Äquivalenzprinzip führt dazu, dass die gesetzliche Rente in Deutschland von Arm zu Reich umverteilt. Dies liegt an der niedrigeren Lebenserwartung der Bezieher*innen von niedrigen Einkommen. Da Menschen mit geringeren Lebenseinkommen eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben, früher zu sterben, als Menschen mit hohen Lebenseinkommen, beziehen sie die Rentenzahlungen über einen deutlich kürzeren Zeitraum.
Das zweite Dilemma ist die Umverteilung von Jung zu Alt, die durch das Rentenpaket II der Bundesregierung nun nochmals verstärkt wird. So werden die Beiträge der Beschäftigten zur Gesetzlichen Rentenversicherung in den kommenden 15 Jahren deutlich steigen. Die aktuellen Rentner*innen dagegen verzichten auf nichts: Das Rentenniveau bleibt stabil, und die Renten werden nicht gekürzt. Auch das sogenannte Generationenkapital der Bundesregierung – bei dem 200 Milliarden Euro größtenteils in Form von Krediten, also Schulden, aufgenommen werden, um am Kapitalmarkt investiert zu werden – wird primär den Babyboomern zugutekommen und die junge Generation ab 2035 nicht merklich entlasten. Auch das geplante Rentenpaket III der Bundesregierung wird wohl an dieser Umverteilung von Jung zu Alt nichts merklich ändern.
Um diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen, braucht es vier Reformen.
Vor allem die Reform des Ehegattensplittings ist ein rotes Tuch, weil viele es fälschlicherweise als steuerliche Unterstützung für Familien wahrnehmen. Es ist jedoch genau das Gegenteil, nämlich eine finanzielle Unterstützung von Paaren, nicht von Familien mit Kindern. Und es ist für Zweitverdienende, meist Frauen, eine der höchsten Hürden, ihre Erwerbstätigkeit auszubauen.
Der Bundesregierung gebührt Respekt für ihren Mut, mit dem Rentenpaket II und bald dem Rentenpaket III Reformen der gesetzlichen Rente umzusetzen. Doch die großen Verteilungsprobleme sind damit noch nicht gelöst. Die Bundesregierung wäre klug beraten, die Mütterrente beizubehalten, um noch größere Ungleichheiten und einen Anstieg der Altersarmut bei Frauen zu verhindern. Langfristig sollte sie jedoch ihr Augenmerk viel stärker als bisher auf eine bessere Balance der Verteilung zwischen Jung und Alt sowie zwischen Arm und Reich legen. Die junge Generation darf nicht noch stärker belastet werden.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Gender , Verteilung