Frauen brauchen endlich bessere Rahmenbedingungen

Blog Marcel Fratzscher vom 19. Juli 2024

Wirtschaft und Politik klagen über den Arbeitskräftemangel, aber Frauen wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch schwer gemacht. Drei Reformen sind nötig.

Deutschland fehlen die Arbeitskräfte – so lautet die Klage. Und die Sorge, denn mit der demografischen Alterung werden in den kommenden Jahren sehr viele Beschäftigte vom Arbeitsmarkt verschwinden. Dabei gibt es viele gut ausgebildete Fachkräfte, die schon auf dem Arbeitsmarkt sind – es sind vor allem Frauen. Denn bei der Frauenerwerbstätigkeit liegt Deutschlands größtes wirtschaftliches Potenzial. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen den Arbeitszeitwünschen der Frauen und der Realität im Arbeitsmarkt. Wenn Politik und Wirtschaft es ernst meinen mit der Lösung des Fachkräfteproblems, müssen sie Frauen den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt und den Ausbau ihres Arbeitsvolumens erleichtern. Dazu müssen in erster Linie die vielen Hürden und Restriktionen abgebaut werden.

Diese Kolumne erschien am 19. Juli 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Der starke Anstieg der Erwerbstätigkeit von Frauen ist – neben der Zuwanderung – einer der wichtigsten Gründe für die starke wirtschaftliche Entwicklung der letzten 20 Jahre. Und für die Tatsache, dass mit 46 Millionen Beschäftigten heute mehr Menschen in Deutschland in Arbeit sind als jemals zuvor. Die Erwerbsquote bei Frauen ist von ein wenig mehr als 50 Prozent Anfang der 1990er auf heute knapp 75 Prozent gestiegen, Deutschland hat damit eine der höchsten Erwerbsquoten in Europa. Gleichzeitig gibt es jedoch fast nirgends einen so hohen Anteil an Frauen, die in Teilzeit arbeiten: Es sind nahezu 50 Prozent.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander

Dies bedeutet auch, dass fast nirgendwo anders die Unterbeschäftigung von Frauen – definiert als der Unterschied zwischen den Wünschen und der Realität in Bezug auf die individuelle Arbeitszeit – größer ist als hierzulande. Viele Frauen in Teilzeit geben an, deutlich mehr Stunden pro Woche arbeiten zu wollen. Dies gilt auch für Frauen mit Kindern. Frauen mit Kindern unter zwölf Jahren wünschen sich eine durchschnittliche Arbeitszeit von 20 bis 30 Stunden pro Woche, Frauen mit Kindern über zwölf Jahre rund 36 Stunden, also nahezu einer Vollzeitbeschäftigung. Zugleich gibt es eine Überbeschäftigung bei Menschen in Vollzeit, das bedeutet, viele wollen weniger Stunden arbeiten oder gar auf eine Viertagewoche umsteigen. Dies gilt insbesondere für Männer.

Es gibt also einerseits eine Unterbeschäftigung bei Frauen in Teilzeit und andererseits eine Überbeschäftigung vor allem bei Männern in Vollzeit (PDF). Bei den Werten zu Familie und Partnerschaft hat sich Deutschland eher Richtung egalitäre Gesellschaft entwickelt, die hohen Wert auf Chancengleichheit legt. So zeigt eine aktuelle DIW-Studie, dass viel mehr Menschen eine egalitäre Aufteilung, in dem beide Partner 30 Stunden pro Woche oder beide Vollzeit arbeiten, als ideal erachten, als es Paare in der Realität umsetzen. Gleichzeitig leben 60 Prozent der westdeutschen Familien mit Kindern im Kindergarten- oder Grundschulalter ein Modell, bei dem die Frau Zuverdienerin ist, der Mann in Vollzeit das Haupteinkommen der Familie erwirtschaftet. Man kann auch sagen: Die meisten Deutschen leben ein Familienmodell, das sie eigentlich nicht wollen. Denn als ideal erachten es lediglich 40 Prozent der Menschen. Es gibt dabei einen interessanten regionalen Unterschied: In Ostdeutschland wird dieses Modell zwar seltener gelebt, aber hier häufiger gewünscht. Für ganz Deutschland gilt: Wunsch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.

Diese Werte und Wünsche, gerade der jungen Generation, werden jedoch von der Politik zu einem erheblichen Teil ignoriert. So sehen viele, vor allem ältere Verantwortliche in Wirtschaft und Politik die Lösung für den Arbeitskräftemangel in Deutschland in einer höheren Wochenarbeitszeit und mehr Überstunden. Sie wollen also entgegen den mehrheitlichen Wünschen der Beschäftigten in Vollzeit diese mit Forderungen nach mehr Leistungsbereitschaft zu mehr Arbeitszeit drängen, anstatt es vor allem Frauen in Teilzeit zu ermöglichen, mehr Stunden zu arbeiten.

Ein weiteres wichtiges Phänomen ist, dass viele Frauen, auch nachdem die Kinder und sie selbst älter werden, ihre Arbeitsstunden nicht oder nur geringfügig erhöhen und somit die Unterbeschäftigung für viele Frauen über ihre Lebenszeit zunimmt. Ein großes Defizit an Quantität und Qualität der Kitaplätze und Ganztagsschulen ist einer der zentralen Gründe, weshalb junge Mütter häufig nicht mehr Stunden arbeiten können. Die Pflege von Angehörigen im späteren Lebensverlauf ist einer der Gründe, weshalb Frauen auch danach ihre Arbeitszeit nicht erhöhen. Dies zeigt, dass der Gender Care Gap – also der Unterschied in den Stunden, die Männer und Frauen für die Sorgearbeit und Kinderbetreuung über Pflege der Angehörigen bis hin zum Haushalt und Erledigungen — über den Lebensverlauf hoch bleibt, auch nachdem die Kinder älter werden und das Haus verlassen.

Drei Reformen sind erforderlich

Die Diskrepanz zwischen Arbeitszeitwünschen und Arbeitsrealität ist daher vor allem für Frauen, aber auch zum Teil für Männer in Deutschland ungewöhnlich groß. Unternehmen werden sich gerade bei der Erfüllung von Arbeitszeitwünschen flexibler zeigen müssen, wenn sie neue Fachkräfte gewinnen und erfahrene halten wollen. Aber auch die Politik kann Weichen stellen. Sie sollte sich dabei vor allem auf drei Elemente konzentrieren. Ein wichtiger Teil der Entscheidung über Arbeitszeit und Arbeitsleben wird von Paaren mit der Geburt des ersten Kindes getroffen. Wer wie lange Elternzeit nimmt und wer wie wieder ins Arbeitsleben einsteigt, entscheidet häufig über das Erwerbsleben für die folgenden 30 bis 40 Jahre. Als Erstes wäre daher eine Reform des Elterngelds wichtig. Das Elterngeld, das 2007 als Lohnersatzleistung von 65 Prozent des Einkommens (maximal 1800 Euro im Monat) eingeführt wurde, ist eine wichtige Errungenschaft. Paare haben die Möglichkeit, wenn jeder mindestens zwei Monate Elternzeit nimmt, die Elternzeit um zwei Monate auf maximal 14 Monate zu verlängern. Obwohl mittlerweile 40 Prozent der Väter die Elternzeit nutzen, so nehmen viele lediglich das Minimum von zwei Monaten in Anspruch, die Mütter hingegen häufig die vollen zwölf Monate.

Eine Reform des Elterngelds könnte sich am Beispiel Islands orientieren, wo beide Eltern den gleichen Anspruch von jeweils sechs Monaten Elternzeit haben, mit einer begrenzten Möglichkeit von bis zu sechs Wochen zwischen den Partnern zu übertragen. Diese Parität hilft, dass beide Partner eine freiere und häufig ähnlichere Wahl darüber treffen, wer wie nach der Elternzeit wieder in den Arbeitsmarkt eintritt und arbeitet. Da Frauen heute vor der Geburt des ersten Kindes meist genauso viel wie ihre Partner verdienen, dürfte die Entscheidung für manche Paare in der Zukunft anders aussehen als bisher, wenn ein ähnliches Modell in Deutschland eingeführt würde. Eine gleichere Aufteilung der Elternzeit würde vielen Familien mehr Flexibilität geben.

Teilzeitmöglichkeit und Ehegattensplitting

Eine zweite Möglichkeit ist, die Anreize für beide Partner zu verbessern, zu ähnlichen Teilen in Teilzeit zu arbeiten. Das entspricht den Wünschen und Werten vieler junger Paare. Die Hürden sind jedoch hoch, denn immer noch kann man in Teilzeit schlechter Karriere machen. Unternehmen sollten daher noch mutiger werden und könnten beispielsweise bereits existierende Modelle von Führungspositionen in Teilzeit umsetzen und ausweiten, zumal die bisherige Erfahrung damit überwiegend positiv ist.  

Als Drittes sollte das Steuer- und Transfersystem grundlegend reformiert werden. Das Ehegattensplitting ist ein für die Beschäftigung in Deutschland höchst schädliches Element, da es die Arbeitszeit vor allem von Frauen signifikant reduziert. Viele, vor allem in der Politik – so erst kürzlich der Bundesfinanzminister – lehnen eine Reform jedoch vehement ab. Ähnliches gilt für die Mitversicherung und die Minijobs, die häufig in der Kombination dazu führen, dass die steuerliche Grenzbelastung für viele Frauen sehr hoch ist. Dies bedeutet, dass sich Arbeiten oder vor allem Mehrarbeit für viele Frauen nicht lohnt, weil ihnen kaum ein zusätzlicher Euro netto am Ende des Monats für ihre zusätzliche Arbeit bleibt.

Eine freiheitliche Gesellschaft, die hohen Wert auf Chancengleichheit legt, sollte dem Abbau dieser Hürden eine hohe Priorität geben. Reformen von Elterngeld, Ehegattensplitting, Mitversicherung und Minijobs sind dringend geboten, um mehr Freiheit und Chancengleichheit zu ermöglichen und es Menschen zu erleichtern, ihr Leben nach ihren Wünschen und Werten zu führen. Dies hätte zudem einen großen Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft – und für die Gleichberechtigung der Geschlechter.

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