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Abschaffung der Mütterrente würde Altersarmut erhöhen

DIW Wochenbericht 31/32 / 2024, S. 495-502

Maximilian Blesch, Annica Gehlen, Johannes Geyer, Peter Haan, Stefan Klotz

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  • Studie auf Basis von SOEP-Daten untersucht, welche Verteilungseffekte eine Abschaffung der 2014 eingeführten Mütterrente hätte
  • Bruttorenten der Rentnerinnen würden um durchschnittlich 85 Euro pro Monat sinken – Einbußen vor allem bei Frauen mit drei oder mehr Kindern
  • Wegfall der Mütterrente würde insbesondere Einkommen der unteren Einkommensgruppen anteilig stark belasten
  • Armutsrisiko älterer Frauen würde um 14,4 Prozent und Gender Pension Gap um mehr als 20 Prozent steigen
  • Statt Mütterrente rückgängig zu machen, sollten Maßnahmen für höhere Frauenerwerbstätigkeit ergriffen werden, um langfristig Altersarmut vorzubeugen

„Die Mütterrente mildert einige Ungleichheiten ab, die vor allem aufgrund von Kindererziehung während der Erwerbsphase entstanden sind. Langfristig wäre es sinnvoller, die Ungleichheit schon während der Erwerbsphase zu reduzieren. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen sollte über den gesamten Lebenszyklus gestärkt werden, um Frauen in der Rente künftig besserzustellen.“ Annica Gehlen

Angesichts demografiebedingt steigender Ausgaben in der Rentenversicherung wird verstärkt über Einsparpotenziale diskutiert. Dabei wird unter anderem vorgeschlagen, die vor zehn Jahren eingeführte Mütterrente wieder abzuschaffen. Allerdings hätte eine Streichung dieser Rentenzuschüsse für Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, erhebliche verteilungspolitische Auswirkungen. Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) mit dem Mikrosimulationsmodell GETTSIM zeigen, dass eine Abschaffung der Mütterrente die Bruttorenten älterer Frauen um durchschnittlich etwa 85 Euro pro Monat mindern würde. Da die Mütterrente vor allem im unteren und mittleren Einkommensbereich wirkt, würde das Armutsrisiko von älteren Frauen um 14,4 Prozent steigen. Die Mütterrente rückgängig zu machen ist also nicht nur rechtlich fragwürdig, es hätte auch finanziell erhebliche negative Folgen. Langfristig sinnvoller wäre es, Ungleichheit und Altersarmutsrisiken schon während der Erwerbsphase anzugehen, indem gezielt Maßnahmen für eine höhere Frauenerwerbstätigkeit und eine Stärkung der partnerschaftlichen Aufteilung der Sorgearbeit ergriffen werden. Dafür ist es notwendig, Kinderbetreuung und Pflegeinfrastruktur auszubauen sowie die Anreize im Steuersystem durch eine Reform des Ehegattensplittings und der Minijobs zu verbessern.

Schon bei ihrer Einführung im Jahr 2014 war die Mütterrente umstritten. In der Kritik stand ihre überwiegende Finanzierung aus Beitragsmitteln, da der Bund keine den zusätzlichen Ausgaben entsprechenden Steuerzuschüsse vorgesehen hatte, und die Tatsache, dass sie die Ausgaben der Rentenversicherung über einen längeren Zeitraum erheblich belasten würde. Eingeführt wurde sie damals, um Frauen, die vor 1992 Kinder geboren hatten, nicht mehr zu benachteiligen, nachdem die Kindererziehungszeit für Geburten ab 1992 auf 36 Monate ausgedehnt wurde (Kasten 1). Die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung sorgt dafür, dass (insbesondere) Frauen nach der Geburt eines Kindes aufgrund der dann häufig eingeschränkten Erwerbstätigkeit weiterhin Rentenansprüche sammeln, die zu einer Absicherung im Alter beitragen.

Parallel zur Einführung der Erziehungszeit im Jahr 1986 wurde erstmals die Anrechnung einer Kindererziehungszeit von zwölf Monaten bei der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) eingeführt. Dem erziehenden Elternteil, in aller Regel der Mutter, wurden Beiträge in Höhe von 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten gutgeschrieben. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 wurde die Kindererziehungszeit auf 36 Monate für Geburten ab 1992 ausgedehnt. 1999 wurde entschieden, die Bewertung auf den vollen Durchschnittsverdienst anzuheben. Mit dem RV-Leistungsverbesserungsgesetz von 2014 wurde dann die Mütterrente I eingeführt, die eine Anhebung der Kindererziehungszeit für Geburten vor 1992 von zwölf auf 24 Monate vorsah. 2019 wurde dann mit dem RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz die Mütterrente II umgesetzt, die eine weitere Anhebung der Kindererziehungszeit um sechs Monate vorsah. Geht man vom aktuellen Rentenwert ab Juli 2024 aus, werden die zwölf zusätzlichen Monate Kinderziehungszeit oder ein Entgeltpunkt mit einer monatlichen Bruttorentenzahlung von 39,32 Euro bewertet. Zusammengenommen entsteht durch die Mütterrente I und II also ein (maximaler) Zuschlag pro Kind von knapp 60 Euro.infoUnter bestimmten Umständen wird nicht der volle Aufschlag gewährt, etwa wenn die begünstigte Person nach der Geburt ein hohes Einkommen erzielt hat. Denn es werden nur Rentenansprüche bis zur Beitragsbemessungsgrenze (näherungsweise entspricht diese dem doppelten Durchschnittsverdienst) gewährt.

In einer Reihe früherer Studien wurden die Wirkungen der Mütterrente vor ihrer Einführung bereits untersucht.infoStefan Bach et al. (2014): Die Verteilungswirkungen der Mütterrente. DIW Wochenbericht Nr. 20, 447–456 (online verfügbar); Stefan Bach, Hermann Buslei und Michelle Harnisch (2018): Die Mütterrente II kommt vor allem Rentnerinnen mit geringen und mittleren Einkommen zugute. DIW Wochenbericht Nr. 28, 613–622 (online verfügbar); Johannes Geyer, Peter Haan und Michelle Harnisch (2020): Zur Wirkung der Grundrente und der Mütterrente auf die Altersarmut. Arbeitspapier 07. Gutachten für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (online verfügbar). Dabei zeigten sich positive Einkommenseffekte über die gesamte Einkommensverteilung. Frauen im unteren Einkommensbereich profitieren stärker von der Mütterrente.

Die Ausgaben der Rentenversicherung für Kindererziehungszeiten sind durch die Einführung der Mütterrente deutlich gestiegen. Im Jahr 2022 gab die Rentenversicherung etwa 20 Milliarden Euro für Rentenansprüche aus Kindererziehungszeiten aus, was einem Anteil an allen Ausgaben von knapp sechs Prozent entspricht.infoStatistik der Deutschen Rentenversicherung (2023): Rentenversicherung in Zeitreihen (Ausgabe 2023), Kapitel „Finanzen“ (online verfügbar). Davon gehen ungefähr 13 Milliarden auf die Mütterrente I und II zurück.

Zehn Jahre später, in Zeiten klammer Kassen, wird die Mütterrente wieder zum Zankapfel.infoDie Abschaffung der Mütterrente wurde in unterschiedlichen Medieninterviews von Wissenschaft und Politik als möglicher Reformbaustein zur Senkung der Rentenausgaben thematisiert. So etwa vom baden-württembergischen Finanzminister Danyal Bayaz: „Wir haben eine Anspruchshaltung in diesem Staat kultiviert“. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25. November 2023; oder auch vom Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Veronika Grimm, im Interview mit der Berliner Morgenpost vom 21. November 2023: Haushaltssperre: Ökonomin bringt Rentenkürzungen ins Spiel (online verfügbar, abgerufen am 25. Juni 2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Die mediale Aufmerksamkeit veranlasste die Deutsche Rentenversicherung zur Klarstellung, dass laufende Renten nicht gekürzt werden können, vgl. die Nachricht auf der Website der Deutschen Rentenversicherung vom 30. November 2023 (online verfügbar). Ihre Abschaffung könnte Milliardenausgaben sparen. Zudem sei sie wenig zielgenau, da sie allen Müttern, die vor 1992 Kinder geboren haben, zugutekomme – unabhängig vom Familieneinkommen und lange nach der Geburt der Kinder. Doch was würde die Streichung für die betroffenen Rentnerinnen bedeuten?

In diesem Wochenbericht wird untersucht, welche Verteilungswirkungen eine Abschaffung der Mütterrente hätte. Dazu werden repräsentative Befragungsdaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die am DIW Berlin seit 1984 erhoben werden, verwendet.infoDas Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 jährlich in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird, vgl. Jan Goebel et al. (2018): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239(29), 345–360 (online verfügbar). Um die Folgen einer Abschaffung der Mütterrente abzuschätzen, wird das Mikrosimulationsmodell GETTSIM verwendet, an dessen Entwicklung auch das DIW Berlin beteiligt ist (Kasten 2). Das Simulationsmodell enthält die wesentlichen Einkommensquellen der Rentner*innenhaushalte und simuliert Steuern, Transferleistungen und Sozialbeiträge. Die Einkommenswirkungen einer Abschaffung der Mütterrente werden vor allem anhand der Verteilung des verfügbaren Einkommens und des Effekts auf das Armutsrisiko dargestellt. Dabei werden Daten aus dem Jahr 2019 verwendet und simuliert, was mit der aktuellen Einkommensverteilung passieren würde, fiele die Mütterrente weg.infoIm Wochenbericht werden Daten des Jahres 2019 verwendet, da die SOEP-Befragungen 2020 und 2021 durch die Corona-Pandemie und den Wechsel des Befragungsinstituts beeinflusst sind. Dadurch ist die nutzbare Zahl an Beobachtungen größer und die Einkommensverteilung nicht durch die Pandemie beeinflusst. Die qualitativen Ergebnisse des Wochenberichts ändern sich dadurch nicht. Durch die Rentenanpassungen hat sich inzwischen allerdings der nominale Wert der Mütterrente entsprechend erhöht.

Das Haushaltsnettoeinkommen wurde mit der Software GETTSIM berechnet. GETTSIM (GErman Taxes and Transfers SIMulator) ist ein Programm, das von Forschenden an mehreren Forschungsinstituten und Universitäten in Deutschland (IZA, DIW Berlin, ifo Institut, ZEW, Universität Bonn, Universität Kassel, LMU München, Universität Mannheim, FU Berlin und IAB) gemeinsam entwickelt wird. Das Programm wird als Open-Source-Projekt implementiert und ist somit der Öffentlichkeit frei zugänglich.infoDie Dokumentation sowie der Quellcode von GETTSIM sind online verfügbar.

GETTSIM kann für beliebige Haushaltskonstellationen, Erwerbs- und Einkommenssituationen genutzt werden, um relevante Größen des deutschen Steuer- und-Transfersystems zu simulieren. Hierzu gehören beispielsweise die Steuerlast von Haushalten, individuelle Sozialversicherungsbeiträge sowie Transferleistungen wie Arbeitslosengeld, Kindergeld, Wohngeld, Bürgergeld und Rentenansprüche.

Die Datengrundlage für die Berechnungen bildet das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Die Befragungsdaten geben Aufschluss über die Einkommenssituation und Haushaltskonstellation der deutschen Bevölkerung. Mithilfe von GETTSIM können Steuerlast und Transferleistungen für Haushalte berechnet und somit Änderungen im Haushaltsnettoeinkommen von Rentnerinnen, die aus den Mütterrentenreformen resultieren, simuliert werden.

Bei der Simulation des Szenarios ohne Mütterrente müssen für die Umsetzbarkeit einige Vereinfachungen vorgenommen werden. So profitieren in der Realität von der Mütterrente auch Hinterbliebene; dieser Aspekt wird in der Simulation vernachlässigt. Damit dürfte das Einkommen von Männern im Szenario ohne Mütterrente geringfügig zu hoch ausfallen. Gleichzeitig wird bei verwitweten Frauen die Mütterrente gegebenenfalls auf die Witwenrente angerechnet. Die Witwenrente würde mithin ohne Mütterrente etwas höher ausfallen. Auch dieser Aspekt wird nicht berücksichtigt. Für die Analyse wird von einer vollen Inanspruchnahme von Sozialleistungen wie Wohngeld ausgegangen. Dies kann zu einer leichten Überschätzung der Haushaltseinkommen von Geringverdiener*innen führen.

Die Berechnungen beziehen sich auf die Einkommens- und Rechtslage des Jahres 2019. Änderungen des Steuer- und Transfersystems nach 2019 werden dementsprechend nicht in der Analyse berücksichtigt. Es handelt sich um eine statische Simulation zum Effekt der Mütterrente auf verfügbare Haushaltseinkommen und daraus resultierende Armutsrisikoquoten. Dementsprechend werden mögliche Verhaltensanpassungen, die das Haushaltseinkommen im Falle einer tatsächlichen Abschaffung der Mütterrente beeinflussen würden, vernachlässigt.

Von der Mütterrente profitieren fast neun Millionen ältere Frauen

Die Mütterrente ist eine der teuersten Rentenreformen der vergangenen Jahre. Im Jahr 2022 lagen die Ausgaben für diese Leistung bei knapp 13 Milliarden Euro pro Jahr.infoAlisha Mendgen (2024): Mütterrente kostet Versicherung knapp 13 Milliarden Euro pro Jahr. Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 8. April (online verfügbar). Durch die Rentenanpassungen 2023 und 2024 dürften die jährlichen Ausgaben inzwischen bei etwa 14 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Sie machten immerhin etwa drei Prozent der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aus. Diese Leistung hat also eine hohe quantitative Bedeutung für die Ausgabenseite und entsprechend bedeutsam ist sie auf der Seite der Rentner*innenhaushalte. Über die Zeit werden die Kosten jedoch sinken, da die Anzahl der betroffenen Mütter zurückgehen wird: Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, gehören überwiegend zu älteren Geburtskohorten, so dass deren Zahl bereits in den kommenden Jahren zurückgehen wird.

Betrachtet man die Bevölkerung ab 65 Jahren, so erhalten etwa 86,5 Prozent der Frauen (8,7 Millionen) Leistungen der Mütterrente. Ungefähr 13,5 Prozent der Frauen ab 65 Jahren profitieren nicht von der Mütterrente, weil sie entweder kinderlos sind oder nur Kinder nach 1992 geboren haben.infoCirca 12,8 Prozent der Rentnerinnen haben keine Kinder. Die restlichen 0,7 Prozent haben ausschließlich Kinder, die nach 1992 geboren wurden. Ein kleiner Teil derjenigen, dem die Mütterrente entzogen würde, dürfte zusätzlich aufgrund der Einkommensanrechnungsvorschriften bei Grundsicherung oder Wohngeld nicht oder weniger stark von der Abschaffung der Mütterrente betroffen sein. Dieser Aspekt wird im vorliegenden Bericht nicht weiter untersucht. Bei älteren Frauen erhöht sie im Jahr 2019 die BruttorenteinfoDie Bruttorente enthält auch die Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung, die im Schnitt bei etwas mehr als zehn Prozent liegen dürften. um durchschnittlich etwa 85 Euro im Monat, so dass diese bei 830 Euro liegt.infoDurch die jährliche Anpassung des Rentenwerts würde dies im Jahr 2024 einer Bruttorente von circa 987 Euro entsprechen. Bei Frauen, die Mütterrente beziehen, steigt die Bruttorente im Schnitt um 107 Euro. Insgesamt würde durch eine Abschaffung der Mütterrente auch der Abstand der gesetzlichen Renten zwischen Männern und Frauen, der sogenannte Gender Pension Gap, von 32,3 auf 39,2 Prozent steigen. Das ist deswegen wichtig zu betonen, da die Daten auch zeigen, dass die Rente umso geringer ausfällt, je mehr Kinder eine Frau hat (Abbildung 1, oben). Die Abschaffung der Mütterrente würde die teilweise Kompensation dieses Unterschieds wieder rückgängig machen. Wichtig dabei ist, dass es sich in der Betrachtung im Wesentlichen um Frauen der Jahrgänge 1920 bis 1954 handelt, die zum Zeitpunkt 2019 bereits 65 Jahre und älter sind. Zumindest in Westdeutschland haben diese Frauen mit der Geburt der Kinder häufig ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen und später weniger am Erwerbsleben teilgenommen als jüngere Generationen, die vom Ausbau der Kinderbetreuung und familienpolitischen Leistungen profitieren.

Diese Erwerbsunterbrechungen nach der Geburt der Kinder zeigen sich auch, wenn man den Effekt nach dem Familienstand der untersuchten Frauen ab 65 betrachtet (Abbildung 1, Mitte). Die niedrigsten (eigenen) Bruttorenten erzielen Frauen, die verheiratet oder verwitwet sind. Hier ist der Effekt der Abschaffung der Mütterrente stärker als bei den nicht verheirateten Frauen, da erstere häufiger und mehr Kinder bekommen haben.

Ohne Mütterrente sänken die Bruttorenten der Frauen über die gesamte Einkommensverteilung

Die Effekte der Abschaffung der Mütterrente sind umso stärker, je mehr Kinder vor 1992 geboren wurden.infoIn dem berechneten Szenario ohne Mütterrente werden keine möglichen Verhaltensanpassungen berücksichtigt. Es handelt sich um eine statische Simulation. Gleichzeitig sind die individuell erzielten Bruttorenten im Durchschnitt niedriger, je mehr Kinder eine Frau bekommen hat (Abbildung 1, oben). So könnte man vermuten, dass sich die Mütterrente vor allem bei niedrigen Haushaltseinkommen bemerkbar macht. Das trifft so allerdings nicht zu: Betrachtet man die Einkommensverteilung der älteren Bevölkerung, so zeigt sich, dass die Mütterrente für die unteren 80 Prozent der Haushaltseinkommensverteilung (erstes bis viertes Quintil) zu einem Zuschlag in ähnlicher Höhe geführt hat (Abbildung 1, unten).infoDas Einkommen bezieht sich in diesem Wochenbericht immer auf das verfügbare Haushaltsnettoeinkommen, das anhand der modifizierten OECD-Skala äquivalenzgewichtet wurde, vgl. DIW Glossar zum Äquivalenzeinkommen (online verfügbar). In anderen Worten: Die Anzahl der Kinder, die vor 1992 geboren wurden, ist relativ gleich verteilt über die Haushalte, wenn man sie nach dem Haushaltseinkommen sortiert – lediglich die obersten 20 Prozent haben etwas weniger Kinder.

Gleichzeitig hängt die individuelle Bruttorente eng mit dem Haushaltseinkommen zusammen: Je höher generell die individuelle Bruttorente der Frauen, desto höher das Haushaltseinkommen. Lediglich Frauen im obersten Einkommensquintil erhalten im Durchschnitt eine niedrigere Bruttorente. Dies lässt sich über die Haushaltszusammensetzung erklären. Frauen im obersten Bereich der Haushaltseinkommensverteilung sind besonders häufig verheiratet. Das hohe Haushaltseinkommen erwirtschaftet vor allem der Ehemann, während sie selbst über vergleichsweise niedrige Rentenansprüche verfügen. Bemerkbar macht sich der Zuschlag vor allem in einer relativen Betrachtung: Würde die Mütterrente abgeschafft, sänken die Bruttorenten im ersten und zweiten Quintil um 14,9 beziehungsweise 11,4 Prozent, während sie im obersten Quintil um 7,7 Prozent abnähmen.

Ohne Mütterrente hätten die ärmsten 20 Prozent acht Prozent weniger Einkommen

Nach der Wirkung der Mütterrente auf die individuelle Bruttorente der Frauen soll im Folgenden betrachtet werden, wie die Abschaffung der Mütterrente die verfügbaren Haushaltseinkommen verändern würde. Mit dem Mikrosimulationsmodell GETTSIM (Kasten 2) kann das Haushaltseinkommen nach Steuern und Transferleistungen simuliert werden. Dabei werden alle Einkommen des Haushalts mit Frauen über 65 Jahre sowie die relevanten Elemente des Steuer- und Transfersystems berücksichtigt.

Bei der betrachteten Gruppe ist das Einkommen aus der Rentenversicherung ein bedeutender Bestandteil des Haushaltsnettoeinkommens. Es beläuft sich auf etwa 59,6 Prozent des Bruttogesamteinkommens. Das unterstreicht die Bedeutung des Zuschlags. Allerdings sänke das verfügbare Einkommen bei Abschaffung der Mütterrente weniger stark als die individuellen Bruttorenten, da die Rente versteuert wird, Sozialbeiträge fällig werden und, insbesondere im unteren Einkommensbereich, auf Sozialleistungen wie Grundsicherung und Wohngeld angerechnet wird.infoDaran ändert der mit der Grundrente eingeführte Freibetrag für Renteneinkommen bei Erfüllung der Wartezeitvoraussetzungen der Grundrente im Wesentlichen nichts. Der Freibetrag stellt Renteneinkommen bis zur Hälfte der Regelbedarfsstufe I frei. Da der Schwellenwert so niedrig gewählt wurde, erreichen die meisten Berechtigten hier den Maximalwert. Eine außerplanmäßige Erhöhung der Renten führt dann nicht zu mehr verfügbarem Einkommen, vgl. Johannes Geyer und Peter Haan (2024): Bilanz der Grundrente: Weniger Menschen als erwartet profitieren davon. DIW aktuell 91 (online verfügbar).

Deutlich wird, dass auch hier mit der Anzahl der Kinder der Anteil der Mütterrente steigt (Abbildung 2, oben). Der Effekt ist allerdings weniger stark ausgeprägt als bei den individuellen Renten. Auch wenn man den Effekt der Abschaffung der Mütterrente nach dem Familienstand differenziert, zeigt sich ein anderes Bild als bei der Betrachtung der individuellen Altersrenten (Abbildung 2, Mitte). Verheiratete und verwitwete Frauen beziehen zwar im Durchschnitt niedrige eigene Renten, verfügen aber über ein höheres Einkommen als ledige oder geschiedene Frauen. Der relative Einkommenseffekt der Abschaffung der Mütterrente ist damit etwas stärker bei ledigen oder geschiedenen Frauen, da die eigene Rente hier einen größeren Anteil am Gesamteinkommen ausmacht.

Über die gesamte Einkommensverteilung sänke das verfügbare Haushaltseinkommen mit Abschaffung der Mütterrente in ähnlicher Weise wie bei den individuellen Renten (Abbildung 2, unten). Für Personen in Haushalten mit den geringsten Einkommen nähme das Nettoäquivalenzeinkommen ohne Mütterrente um 74,60 Euro, für Personen in Haushalten mit den höchsten Einkommen um 48,80 Euro pro Monat ab. Die relative Veränderung unterscheidet sich noch deutlicher. Die unteren Einkommensgruppen würden prozentual stärker von der Maßnahme belastet als die oberen Einkommensgruppen. Das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen von Frauen über 65 Jahren sänke durch einen Wegfall der Mütterrente im Mittel um 4,4 Prozent. Bei der untersten Einkommensgruppe wären es 8,3 Prozent weniger, bei der höchsten 1,2 Prozent.

Altersarmut von Frauen deutlich erhöht

Die Abschaffung der Mütterrente hätte auch einen spürbaren Einfluss auf die Armutsrisikoquote. Die Armutsrisikoquote misst den Anteil der Personen mit einem verfügbaren Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Die Armutsrisikoquote in der vorliegenden Stichprobe liegt bei etwa 18,4 Prozent für die gesamte Bevölkerung und bei 18 Prozent in der Bevölkerung ab 65 Jahren.infoZur Definition von Armutsmaßen und der empirischen Messung siehe Johannes Geyer (2015): Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut. DIW Roundup 62 (online verfügbar). Frauen ab 65 Jahren weisen ein überdurchschnittliches Armutsrisiko von 19,4 Prozent auf, bei älteren Männern liegt das Armutsrisiko bei 16,2 Prozent. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied resultiert im Wesentlichen aus Unterschieden bei alleinlebenden Personen, da wie oben beschrieben das Einkommen äquivalenzgewichtet wurde.infoDer größte Teil der älteren Personen lebt entweder allein oder in einem Zwei-Personen-Haushalt. Andere Haushaltsformen sind sehr selten zu beobachten, und die Heimbevölkerung wird in dieser Studie nicht betrachtet. Entfiele die Mütterrente, würde dies die Armutsrisikoquote der Frauen ab 65 Jahren um 14,4 Prozent auf 22,3 Prozent erhöhen.

Die Armutsrisikoquoten von Frauen unterscheiden sich zudem nach der Zahl der Kinder (Abbildung 3, oben). Interessant ist, dass kinderlose Frauen ein höheres Armutsrisiko aufweisen als Frauen mit einem oder zwei Kindern. Die höchsten Armutsrisiken weisen allerdings Frauen mit drei (21,2 Prozent) oder vier und mehr Kindern (33,8 Prozent) auf. Durch Abschaffung der Mütterrente stiege das Armutsrisiko von Frauen mit Kindern deutlich, ab drei und mehr Kindern um etwa fünf bis sechs Prozentpunkte. Umgekehrt ausgedrückt: Die Mütterrente leistet einen deutlichen Beitrag zur Armutsrisikoreduktion für Gruppen, die ohnehin einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind.infoDie Armutsrisikoquote für ältere Frauen und Kinder sinkt leicht im Szenario ohne Mütterrente im Vergleich zum Ist-Zustand. Dieses Ergebnis resultiert aus einem sinkenden Medianeinkommen in der Gesamtbevölkerung durch einen Abzug der Mütterrente. Da kinderlose Frauen nicht von der Mütterrente profitieren, werden sie in diesem Szenario also relativ bessergestellt.

Neben der Anzahl der Kinder spielt der Familienstand eine Rolle (Abbildung 3, unten). Geschiedene und verwitwete Frauen würden am stärksten von der Abschaffung der Mütterrente belastet, wobei beide Gruppen ein höheres Armutsrisiko aufweisen als Verheiratete. Würde die Mütterrente wegfallen, erhöhte dies entsprechend das Armutsrisiko, insbesondere für geschiedene und verwitwete Frauen mit mehr als drei Kindern.

Fazit: Mütterrente nicht abschaffen, aber Familienpolitik weiterentwickeln

Die aktuellen Schwierigkeiten der Bundesregierung bei der Finanzierung der Staatsaufgaben haben Debatten über Sparpotenziale in der sozialen Sicherung ausgelöst. So kommen auch die Mütterrente I und II als Sparpotenzial in den Blick. Eine Rücknahme der Rentengutschrift wäre jedoch ein massiver Eingriff in die Eigentumsrechte der Rentnerinnen, die davon bereits profitieren. Es ist zudem höchst unwahrscheinlich, dass diese Leistungsrücknahme verfassungsrechtlich gebilligt würde.

Der Wochenbericht zeigt darüber hinaus, dass die Mütterrente ein wichtiger Einkommensbaustein für fast neun Millionen ältere Frauen und deren Haushalte geworden ist und im Wesentlichen den unteren und mittleren Einkommensgruppen zugutekommt. Dadurch wird auch die Altersarmut erheblich reduziert. Da insbesondere Frauen von der Mütterrente profitieren, reduziert sich auch der Gender Pension Gap. Die Mütterrente gleicht damit zum Teil Ungleichheiten aus, die vor allem aufgrund von Kindererziehungszeiten im erwerbsfähigen Alter entstanden sind.

Zielgerichteter als ein Zuschlag bei der Rente wäre es, die Ungleichheit schon während der Erwerbsphase zu reduzieren, also gezielt Frauenerwerbstätigkeit und eine stärkere partnerschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit zu fördern.infoLudovica Gambaro et al. (2024): Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit bei Eltern: Wunsch und Wirklichkeit liegen teils weit auseinander. DIW Wochenbericht Nr. 29, 459–466 (online verfügbar, abgerufen am 17. Juli 2024). Dafür ist es notwendig, Kinderbetreuung und Pflegeinfrastruktur auszubauen und die Anreize im Steuersystem durch eine Reform des Ehegattensplittings und der Minijobs zu verbessern.

Es gibt darüber hinaus ein weiteres wichtiges Argument, warum statt einer Ausgleichzahlung in der Rentenphase Mütter dazu angereizt werden sollten, mehr am Erwerbsleben teilzuhaben: Die Mütterrente hat negative Beschäftigungseffekte. Neuere empirische Studien zeigen, dass Frauen aufgrund der Mütterrente ihre Beschäftigung und ihre Arbeitsstunden vor dem Renteneintritt reduziert haben.infoSebastian Becker et al. (2022): The Effect of Pension Wealth on Employment. IZA Discussion Paper Nr. 15836 (online verfügbar); Elisabeth Artmann, Nicola Fuchs-Schündeln und Giulia Giupponi (2023): Forward-Looking Labor Supply Responses to Changes in Pension Wealth: Evidence from Germany. CESifo Working Paper Nr. 10427 (online verfügbar). Dadurch steigt potenziell der finanzielle Druck auf die Rentenkasse. Zudem wird der Arbeits- und Fachkräftemangel weiter verschärft und das Wirtschaftswachstum gedämpft.

Generell gilt darüber hinaus, dass die Rentenpolitik zu stark an der konjunkturellen Lage ausgerichtet wird, statt langfristig tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Auch die Einführung der Mütterrente war einer unerwartet guten Sonderkonjunktur und Überschüssen geschuldet, die damals verteilt wurden und nun noch lange zu Ausgaben der Rentenversicherung führen werden. Dadurch ergeben sich auch erhebliche zusätzliche Belastungswirkungen, die noch etwa 15 Jahre anhalten werden.

Durch die Garantie eines Rentenniveaus von 48 Prozent durch das im Jahr 2024 beschlossene Rentenpaket II kommt es zudem dazu, dass die Rentner*innen weniger stark an der Finanzierung dieser Maßnahme beteiligt werden. Denn die Niveaugarantie führt dazu, dass der aktuelle Rentenwert nicht mehr durch steigende Rentenausgaben gedämpft wird. Allerdings tragen sie noch als Steuerzahlende einen Teil zur Finanzierung der Renten bei.infoStefan Bach, Hermann Buslei und Michelle Harnisch (2018): Die Mütterrente II kommt vor allem Rentnerinnen mit geringen und mittleren Einkommen zugute. DIW Wochenbericht Nr. 28, 613–622 (online verfügbar). Grundsätzlich sollte die Rentenpolitik zielgerichteter werden und idealerweise ein langfristig tragfähiges Einkommenssicherungsziel verfolgen.

Annica Gehlen

Doktorandin in der Abteilung Staat

Maximilian Blesch

Doktorand in der Abteilung Staat

Johannes Geyer

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

Peter Haan

Abteilungsleiter in der Abteilung Staat



JEL-Classification: D31;J14;J26;H55
Keywords: Women, child credits, pension reform, income distribution
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-31-1

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