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Warum wir Zuversicht aus Ostdeutschland schöpfen sollten

Blog Marcel Fratzscher vom 18. November 2024

Wir Deutschen müssen endlich unsere Stärken feiern, statt zu jammern. Die letzten 35 Jahre seit dem Mauerfall waren einer der größten Erfolge der deutschen Geschichte.

 

Über die Turbulenzen der vergangenen Woche – vom Wahlsieg Trumps bis zum Ampel-Aus und Neuwahlen – ist ein wichtiger Tag in der Geschichte Deutschlands fast unbemerkt geblieben: der 35. Jahrestag des Mauerfalls

Der 9. November 1989 markiert den Beginn des größten und bemerkenswertesten Erfolgs in der deutschen Geschichte und nicht – wie allzu viele meinen – den Beginn der Spaltung, des Scheiterns und der Polarisierung. Wir werden die gefühlte Spaltung zwischen Ost und West nicht überwinden, wenn wir nicht eine grundlegend andere Wahrnehmung dieses wichtigen Tages haben. Wir Deutschen müssen endlich aufhören zu jammern und stattdessen unsere Erfolge feiern und unsere Stärken wertschätzen. Dies ist möglich, ohne dass wir Fehler und Probleme kleinreden oder ausblenden.

Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 15. November 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Stimmung und die wirtschaftliche Realität passen nicht zusammen

Die Diskrepanz vor allem zwischen der wirtschaftlichen Realität und der Stimmung in unserem Land, insbesondere in Ostdeutschland, ist riesig – und zwar auf vier Ebenen. Die erste Ebene betrifft die Zufriedenheit der Menschen, wie der erste Gleichwertigkeitsbericht und Studien des DIW Berlin aufzeigen: Die individuelle Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben ist in den vergangenen 20 Jahren stetig gestiegen. Gleichzeitig ist die Zufriedenheit mit der Gesellschaft, der Daseinsfürsorge und der Politik gering. Wie können Menschen so zufrieden mit ihrem eigenen Leben sein, aber gleichzeitig so unzufrieden mit der Gesellschaft, in der sie leben?

Eine zweite Ebene betrifft die regionalen Unterschiede bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Das durchschnittliche Einkommen in Ostdeutschland liegt heute bei circa 80 Prozent des Einkommens im Westen. Möglich wurde dies durch einen enormen Aufholprozess in den letzten Jahrzehnten. Trotzdem wird es von vielen als ein Scheitern und eine schreiende Ungerechtigkeit wahrgenommen, dass es noch immer keine Parität bei Löhnen und Einkommen zwischen Ost und West gibt. Fakt ist, dass die regionalen Unterschiede in Deutschland heute sehr viel geringer sind als in fast jedem vergleichbaren Industrieland, wie verschiedene Daten der OECD und der EU-Kommission zeigen. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Nord und Süd in Italien, Spanien, Frankreich oder Großbritannien sind sehr viel größer – und zwar nicht erst seit 35, sondern zum Teil schon seit über 100 Jahren.

Regionale Unterschiede sind größer als der Ost-West-Unterschied

Zudem sind auch innerhalb Ost- und Westdeutschlands die wirtschaftlichen Unterschiede erheblich. Leipzig, Dresden und Erfurt sind prosperierende Städte, während viele ländliche Regionen im Osten wirtschaftlich schwächer bleiben. In vielen Teilen Baden-Württembergs und Bayerns ist der wirtschaftliche Wohlstand enorm; strukturschwächere Regionen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz oder dem Saarland haben in den letzten drei Jahrzehnten den Anschluss verloren und haben teilweise noch größere strukturelle Probleme als viele im Osten. Es gibt unbestritten wichtige systematische Unterschiede zwischen Ost und West – bei Vermögen, Erbschaften, Gender Pay Gap oder beim Durchschnittsalter. Aber die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Ost und West sind meist geringer als innerhalb der Regionen.

Wirtschaftliche Transformation hat Ostdeutschen viel abverlangt

Die dritte Ebene betrifft die Wahrnehmung, die wirtschaftliche Transformation in Ostdeutschland sei kein Erfolg gewesen, sondern habe viele Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen. Dabei hat kaum eine Region in der Welt, auch in Osteuropa, so erfolgreich eine so grundlegende wirtschaftliche Transformation bewältigt wie die Menschen in Ostdeutschland. Diese Transformation hat den Menschen in Ostdeutschland viel abverlangt. 80 Prozent der Industriejobs der DDR sind innerhalb weniger Jahre verschwunden und wurden erst graduell, in anderen Regionen und in anderen Branchen ersetzt.

Millionen Ostdeutsche haben sich neu erfunden

Die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Menschen in Ostdeutschland sind in jeder Hinsicht bemerkenswert. Viele Menschen mussten in der ersten Phase nach der Wiedervereinigung in andere Regionen umziehen oder zum Arbeitsplatz pendeln, sofern sie einen hatten. Viele Millionen Ostdeutsche steckten viele Jahre in sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fest, mussten sich neu qualifizieren und neu erfinden – viele nicht nur einmal, sondern mehrfach. Heute gibt es Rekordbeschäftigung in Ostdeutschland, die Arbeitslosenquote ist niedrig – im Durchschnitt zwar etwas höher als im Westen, aber in vielen individuellen Städten und Regionen ist sie sogar niedriger. Es gibt eine wachsende Anzahl innovativer Unternehmen, und ostdeutsche Regionen fangen an, eigene komparative Vorteile und wirtschaftliche Identitäten zu entwickeln.

Die Kriminalitätsrate nimmt ab, aber das merkt keiner

Als Viertes ist die Zufriedenheit mit der Daseinsvorsorge in Ostdeutschland sehr gering, wie der Gleichwertigkeitsbericht zeigt. Das Gefühl ist, die Gesundheitsvorsorge sei unzureichend, soziale Sicherheit und Vorsorge würden schlechter und die Infrastruktur werde vernachlässigt. Die Wahrnehmung ist, dass die Kriminalität zunehme und die Menschen sich nicht mehr sicher im öffentlichen Raum bewegen könnten. Die Fakten zeigen jedoch ein gegenteiliges Bild: Die Gesundheitsvorsorge hat sich in den letzten 35 Jahren deutlich verbessert, die Lebenserwartung hat im Osten stärker zugenommen als im Westen. Die Kriminalitätsrate nimmt ab, die Städte werden sicherer und nicht unsicherer. Die sozialen Sicherungssysteme unterstützen Menschen im Osten nicht weniger als die Menschen im Westen.

Statt stolz auf das schon Erreichte zu sein, wird die Stimmung zunehmend geprägt von Hass, Ausgrenzung und Abgrenzung von Menschen aus anderen Regionen in Deutschland und insbesondere von Menschen aus dem Ausland. Die Ablehnung der Vielfalt und einer offenen Gesellschaft nimmt zu. Dabei profitiert kaum eine Region so stark von dieser Vielfalt und Offenheit.

Der Schaden einer Abgrenzung wäre groß

Und in Ostdeutschland gibt es eine starke Stimmung für Protektionismus und Abschottung von Europa und den USA. Der Schaden einer solchen Abschottung wäre vor allem für Ostdeutschland enorm, denn fast jeder zweite Job – und vor allem die gut bezahlten Jobs – hängt direkt oder indirekt an den Exporten ins Ausland.

Woher kommt also diese große und zunehmende Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und gefühlter Realität auf der einen Seite und Fakten auf der anderen Seite? Ein Teil der Antwort mag in zu hohen und unrealistischen Erwartungen liegen. Bundeskanzler Helmut Kohl versprach "blühende Landschaften" innerhalb weniger Jahre. Dies war völlig unrealistisch. Auch heute sehen viele das um 20 Prozent geringere Pro-Kopf-Einkommen in Ostdeutschland als ein Scheitern an. Aber eine noch stärkere Angleichung braucht Zeit und der eingeschlagene Weg des Rechtsextremismus, der Abschottung und der Polarisierung wird Ostdeutschland wirtschaftlich stark zurückwerfen und die Diskrepanz vergrößern.

Warum Hass statt Stolz?

Eine zweite Ursache mag die fehlende Wertschätzung ihrer Lebensleistung sein, die viele Menschen in Ostdeutschland empfinden. Die US-Soziologin Arlie Russell Hochschild erklärt den Erfolg von Donald Trump bei weißen, einkommensschwachen und bildungsfernen Menschen aus strukturschwächeren US-Regionen, dass dieser ihnen ihren verlorenen gegangenen Stolz wieder ein Stück weit zurückgegeben habe. Ihm gelinge es, die Realität zu leugnen und anderen die Schuld für ihre Probleme zuzuschieben. Rassismus und Hass dieser Menschen hätten zugenommen in Zeiten, in denen sie diesen Stolz verloren haben. Hochschild zieht darin auch eine Parallele zu Ostdeutschland.

Statt stolz auf das schon Erreichte zu sein, wird die Stimmung zunehmend geprägt von Hass, Ausgrenzung und Abgrenzung von Menschen aus anderen Regionen in Deutschland und insbesondere von Menschen aus dem Ausland. Die Ablehnung der Vielfalt und einer offenen Gesellschaft nimmt zu. Dabei profitiert kaum eine Region so stark von dieser Vielfalt und Offenheit.

Sorgen und Ängste ernst nehmen

Deshalb ist es so wichtig, die genannten Fakten und Erfolge zu würdigen und die Stärken in den Mittelpunkt zu stellen, statt nur auf die Probleme und Schwächen zu schauen. Und zur Wertschätzung gehört auch, die vielen Fehler anzusprechen, die in der Transformation gemacht wurden – angefangen von Entscheidungen der Treuhandgesellschaft über die Arbeitsmarktpolitik bis hin zur Industriepolitik. Dies macht die Fehler zwar nicht rückgängig, aber ist ein wichtiger Teil der Vergangenheitsbewältigung, um den Blick wieder in die Zukunft richten zu können.

Berechtigte Zukunftssorgen und Ängste sind ein dritter Erklärungsansatz für die Diskrepanz zwischen Stimmung und Fakten. Der demografische Wandel wird strukturschwache Regionen und viele verletzliche Gruppen im Osten wie im Westen hart treffen und die Chancen auf gute Arbeit verringern. Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land und die Ungleichheit durch technologische Entwicklungen werden weiter zunehmen.

Eine Lösung erfordert, diese Sorgen und Ängste ernst zu nehmen, die Ursachen zu verstehen und die richtigen Antworten zu finden. Die Lösung für eine bessere Zukunft mit mehr Zufriedenheit und Wertschätzung ist jedoch genau das Gegenteil von dem, was Rechtsextreme und Populisten fordern. Ausgrenzung und Abschottung werden vor allem die strukturschwächeren Regionen in Ostdeutschland hart treffen und ihre Erfolge seit der Wende zunichtemachen. Eine angemessene Würdigung der Lebensleistung vieler Ostdeutscher wird durch mangelnde Wertschätzung von Vielfalt gegenüber Fremden oder anderen Werten nicht nur nicht realisiert, sondern unmöglich werden. Eine Dämonisierung staatlicher Institutionen wird den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt untergraben und erschweren.

Wir Deutschen sollten mit dem Jammern auf hohem Niveau aufhören. Die letzten 35 Jahre und die Transformation in Ostdeutschland waren einer der größten Erfolge der deutschen Geschichte. Ohne die Wertschätzung dieser Tatsache werden sich die mentale Depression und der Pessimismus in Deutschland verstetigen und wir werden genau in die politische, wirtschaftliche und soziale Krise rutschen, die wir zu verhindern suchen.

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