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Mehr Europa: 13 Herausforderungen - 13 Lösungen für mehr Konvergenz, Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit

Pressemitteilung vom 2. Mai 2019

Gut 20 DIW-Ökonominnen und -Ökonomen stellen Lösungsansätze für europäische Herausforderungen vor – Einheitliche Rahmenbedingungen können EU widerstandsfähiger machen – Bessere Anreizsysteme sorgen für mehr Konvergenz – Weltwirtschaftlichen Risiken wie dem US-Zollstreit muss Europa geschlossen entgegentreten

Der europäische Gedanke, für Wachstum und gleiche Lebensbedingungen in allen EU-Ländern zu sorgen, trägt nach wie vor, doch haben die Krisen in den vergangenen Jahren gezeigt: Europa braucht Reformen. Wie diese genau aussehen könnten, haben gut 20 Ökonominnen und Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) anlässlich der Europa-Wahl Ende Mai untersucht. Für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz könnte ein Innovationspakt, eine stringentere Fusionskontrolle und gezieltere Industrieförderung sorgen. Neue Fiskalregeln, ein Stabilisierungsfonds und regulatorische Harmonisierung würden Europa stabiler und sozialer machen. Globale Herausforderungen, die an nationalen Grenzen nicht Halt machen wie Migration, Umwelt, Klima, können die EU-Länder nur gemeinsam schultern.

Wettbewerb und Konvergenz: Von Handel und Fusionskontrolle bis Industrie- und Innovationspolitik

„Die Europawahl ist eine große Chance für eine Neuorientierung Europas. Wir müssen eine Antwort auf die divergierenden und polarisierenden Entwicklungen innerhalb Europas als auch den zunehmenden Wettbewerb von außen aus China und den USA finden“, betont Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin. „Mit einheitlicheren Rahmenbedingungen und besseren Anreizsystemen könnte der Wirtschaftsraum Europa wettbewerbsfähiger und auch sozial stabiler werden.“ Den Herausforderungen von außen, wie dem Zollstreit mit den USA, könnte die EU mit entschlossenem und vor allem geschlossenem Auftreten erfolgreich bewältigen. Dass dies erfolgsversprechend ist, zeigen aktuelle Berechnungen. Untersucht wurde, wie die Aktienindizes in den USA, China und EU-Ländern auf die Ankündigung von höheren Zöllen reagiert haben. Demnach zeigt sich, dass entschlossene Gegenmaßnahmen bei Zollandrohungen auch die Indizes in den USA fallen lassen, während nach unkonzertiertem Verhalten der von den Zöllen betroffenen Staaten die Aktienkurse der US-Unternehmen steigen.

Zudem sollte die Fusionskontrolle noch effizienter werden – vor allem, wenn große Tech-Konzerne kleine Start-ups übernehmen. Eine Evaluierung der europäischen Fusionskontrolle der letzten Jahre widerlegt kritische Stimmen, die Fusionskontrolle der EU sei zu interventionistisch. Tatsächlich zeigt sich, dass sie nur in gut sieben Prozent aller angekündigten Fusionen Auflagen erteilt oder Fusionen untersagt. Da die Evaluierung auch zeigt, dass die Fusionskontrolle erfolgreich ist, sollte sie noch stringenter werden. Für mehr Konvergenz und Wachstum innerhalb der EU könnte ein Pakt für Innovation sorgen, der die bestehenden Strukturfonds weiterentwickelt. Die Freigabe von Mitteln sollte künftig an die Umsetzung von Strukturreformen hin zu nachhaltigen Investitionen in Innovationssysteme geknüpft werden, schlägt Studienautor Alexander Kritikos vor. „Bei der Qualität der nationalen Innovationssysteme ist sowohl ein Nord-Süd- als auch ein West-Ost-Gefälle festzustellen. Um Innovatoren und Investoren anzuziehen, braucht es vielerorts grundlegende Verbesserung durch geeignete Strukturreformen, die man über einen Pakt für Innovation forcieren könnte.“ Zusätzlich könnte eine gezieltere Industriepolitik gerade die Regionen fördern, deren Industrieanteil noch den Erwartungen hinterherhinkt. Eine DIW-Analyse identifiziert Typen von Regionen, in denen eine gezielte Industrieförderung Früchte tragen könnte.

Stabiles und soziales Europa: Von neuen Fiskalregeln und effizienten Insolvenzbedingungen

Um den erworbenen Wohlstand in Zukunft zu sichern und gerecht zu verteilen, muss Europa Antworten auf Herausforderungen geben. Fünf Vorschläge für ein neues Fiskalpaket wie beispielsweise eine neue Ausgaberegel könnten in schlechten Zeiten mehr Flexibilität erlauben und antizyklisch wirken. Um die Folgen von Wirtschaftskrisen besser abfedern zu können, benötigt Europa einen Stabilisierungsfonds, der ähnlich einer Versicherung in schlechten Zeiten auszahlt und in guten Zeiten auf Grundlage einer Risikoklassifizierung Beiträge einnimmt. Zusätzlich kann ein integrierter Eigenkapitalmarkt helfen, die Auswirkungen von wirtschaftlichen Schwankungen zu mildern. Effizientere Insolvenzregeln könnten der Schlüssel für die weitere Integration der Kapitalmärkte sein.

© DIW Berlin

Ein zusätzlicher wichtiger sozialer Aspekt in Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter. In Aufsichtsgremien kommt diese nur in Ländern mit einer verbindlichen Quote voran. Der Unterschied in den Erwerbsbiographen zwischen den Geschlechtern schlägt sich auch in den Rentenlücken nieder, die das DIW Berlin europaweit dokumentiert hat. Es gilt also, europaweite Regelungen zu bestimmen, um die systematische Benachteiligung der Hälfte der europäischen Bevölkerung zu beenden. Da Wissen und Bildung eine unabdingbare Voraussetzung für den Wohlstand Europas sind, sollten sich nach den europäischen Universitäten nun die Schulen über eine Bildungsplattform vernetzen, um auf neue Herausforderungen wie den digitalen Wandel schon möglichst in einem frühen Bildungsstadium zu reagieren. Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder für die unabhängige und externe Evaluation von schulischen Maßnahmen bereitstellen.

Globale Verantwortung: Von erneuerbaren Energien, Klimapfand und Migrationsdruck

Darüber hinaus gibt es globale Herausforderungen, denen sich die Länder Europas gemeinsam stellen müssen. Dazu gehören auch die Klimapolitik und die Energieversorgung. „Um die Klimaziele zu erreichen, muss die Energiewirtschaft ausschließlich auf erneuerbare Energien setzen. Dies ist technisch möglich und wirtschaftlich lohnend, wenn die Marktbedingungen europaweit stimmen“, argumentiert Studienautorin Claudia Kemfert. „Dazu müssen einerseits die Subventionen für fossile und atomare Energien abgebaut werden. Andererseits gilt es, die Marktbedingungen für die Verzahnung der erneuerbaren Energien mittels intelligenter Technik und für den Einsatz von Speichern zu verbessern.“ Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissionsintensiver Grundstoffe könnte die CO2-Emissionen drastisch senken, ohne die Verlagerung der Industrie ins Ausland befürchten zu müssen. Zu den globalen Herausforderungen, die Europa gemeinsam angehen muss, gehört auch der Migrationsdruck aus Afrika. Forscher am DIW Berlin zeigen, dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit seinem „Marshall-Plan mit Afrika“ viel zu wenig ausrichten kann, ein Zusammenschluss der Länder Europas aber durchaus Erfolg haben könnte.

„Wir brauchen in wichtigen Bereichen mehr Europa, um schlagkräftig agieren zu können – mit einer weitsichtigen Strategie, in der sich Europa auf seine Stärken konzentriert.“ Alexander Kriwoluzky

All diese Anforderungen sind gewaltig, aber lösbar, wie die DIW-Expertinnen und -Experten zeigen. Und sie würden allen zugutekommen: den EU-Kernländern ebenso wie den südeuropäischen Krisenländern und den relativ neuen östlichen EU-Staaten. „Drei Ps sind derzeit die größten Risiken für Europa: Populismus, Protektionismus und Paralyse“, meint Alexander Kriwoluzky. „Wir brauchen in wichtigen Bereichen mehr Europa, um schlagkräftig agieren zu können – mit einer weitsichtigen Strategie, in der sich Europa auf seine Stärken konzentriert.“

Links

Interview mit Alexander Kriwoluzky (Print (PDF, 77.87 KB)und
O-Ton von Alexander Kriwoluzky
Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat geben - Interview mit Alexander Kriwoluzky
Alexander Kriwoluzky

Abteilungsleiter in der Abteilung Makroökonomie

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