Blog Marcel Fratzscher vom 23. August 2024
Untersuchungen zeigen: Die Deutschen sind zufriedener mit ihrer Lebenslage, als es so manche Umfrage suggeriert. Warum nur ist die Stimmung dann so mies?
Die Stimmung in Deutschland scheint schlecht zu sein. Man hat das Gefühl, die deutsche Gesellschaft ist von einer mentalen Depression geprägt, so wie Bundespräsident Roman Herzog es 1997 monierte. Dieser Eindruck steht in starkem Kontrast zu wissenschaftlichen Studien, denen zufolge die allgemeine Lebenszufriedenheit der Menschen in Deutschland selten größer war als heute und sich seit 2004 stark verbessert hat. Wie passt das zusammen? Und was sagt es über unsere Gesellschaft aus?
Diese Kolumne erschien am 23. August 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Gerade die Wirtschaftswissenschaften sind seit jeher darauf fixiert, den Wohlstand einer Gesellschaft durch die Höhe der Wirtschaftsleistung und dessen Wachstum zu messen. Dabei ist das Wirtschaftswachstum ein denkbar schlechter Indikator für Wohlstand. Ziel einer Gesellschaft und deren Institutionen kann nicht die Maximierung des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts sein, sondern das Glück und die Lebenszufriedenheit der Menschen und das künftiger Generationen.
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen affektivem Wohlbefinden, also wie häufig Menschen positive und negative Gefühle erleben, und kognitivem Wohlbefinden, also dem Vergleich der gegenwärtigen Lebenssituation mit den Wünschen der Menschen. In das kognitive Wohlbefinden fließt sowohl die Einschätzung der eigenen Zufriedenheit mit der allgemeinen Lebenssituation ein als auch die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen.
Eine neue Studie des DIW Berlin analysiert mithilfe des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), wie sich die Zufriedenheit der Menschen in Deutschland zwischen 2004 und 2021 entwickelt hat. Sie kommt zum Teil zu bemerkenswerten Resultaten: Entgegen der generellen Wahrnehmung waren die Menschen in Deutschland nie zufriedener als im Jahr 2021, dem aktuellsten Erhebungsjahr der Studie. Die Lebenszufriedenheit der Menschen in Deutschland hat seit 2004 stark zugenommen. Genauso bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Ungleichheit bei der Lebenszufriedenheit über viele Dimensionen zum Teil sehr deutlich abgenommen hat.
So ist die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem Einkommen und der Arbeit sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland seit 2004 stark gestiegen – im Osten sogar noch stärker als im Westen, sodass heute kaum mehr ein Unterschied in der Zufriedenheit zwischen Ost und West besteht. Auch die Unterschiede zwischen Männern und Frauen und zwischen jungen und alten Menschen haben ab- oder zumindest nicht zugenommen. Vor allem unter Frauen und jungen Menschen unter 30 ist die Zufriedenheit in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen. Auch bei Menschen mit geringen Einkommen hat sie deutlich zugelegt, auch wenn diese noch immer signifikant geringer ist als die der Spitzenverdiener.
Einerseits ist also die Zufriedenheit angestiegen, andererseits hat die Ungleichheit abgenommen: So sind Männer in Bezug auf ihr Einkommen zwar immer noch zufriedener als Frauen, der Unterschied hat jedoch abgenommen und ist mittlerweile recht gering – trotz signifikanter Unterschieden beim Stundenlohn und den monatlichen Einkommen. In Ostdeutschland ist die Zufriedenheit mit dem eigenen Einkommen deutlich stärker gestiegen als im Westen und hat den Rückstand fast komplett aufgeholt. Ähnliches gilt für junge Menschen, die zwar deutlich weniger verdienen, deren Zufriedenheit mit dem Einkommen sich aber den Werten der älteren Menschen angenähert hat. Dies mag dadurch erklärbar sein, dass junge Menschen noch ein langes Berufsleben vor sich haben und Löhne und Einkommen in den vergangenen 20 Jahren auch für diese Gruppe deutlich gestiegen sind.
Bei der Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit zeigt sich, dass Frauen genauso zufrieden mit ihrer Arbeit sind wie Männer. Auch die Menschen im Osten gleichen sich in dieser Kategorie dem Westen an. Und alle Gruppen sind mit ihrer Arbeit zufriedener als noch vor 20 Jahren. Ein bemerkenswertes Resultat ist, dass junge Menschen bis 30 Jahren mit ihrer Arbeit zufriedener sind als Menschen über 30. Das ist deshalb bemerkenswert, da junge Menschen generell weniger verdienen und ihre Zukunft weniger absehbar und damit unsicherer ist. Andererseits haben junge Beschäftigte noch mehr Optionen und Freiheiten, ihr eigenes Arbeitsleben zu gestalten.
Viele ältere Menschen klagen über eine vermeintlich geringe Arbeitsmoral der jungen Menschen und deren angeblich überzogene Forderungen nach einem Ausgleich zwischen Arbeit und Privatleben. Eine mögliche Erklärung ist daher auch, dass es junge Menschen heute besser verstehen als ihre Eltern, Prioritäten zu setzen und in ihrem Arbeitsleben klare Grenzen zu ziehen. Die demografische Entwicklung, die sich nach und nach in einem akuten Arbeitskräftemangel äußert, gibt ihnen bessere Möglichkeiten und die Macht, diese Prioritäten auch umzusetzen.
Wie passt das zum Bild der unzufriedenen Deutschen? Drei Punkte sind wichtig für die Antwort auf diese Frage: Zum einen gibt es eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und der Zufriedenheit mit Staat und Gesellschaft. Auch der kürzlich erschienene Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung belegt das: Viele geben an, recht zufrieden mit ihrem eigenen Leben zu sein, sind aber gleichzeitig unzufrieden mit der Region, in der sie leben, mit der Qualität der Daseinsvorsorge, gesellschaftlichen Konflikten und mit einer vermeintlich schlechten Arbeit staatlicher Institutionen.
Offenkundig gelingt es nicht, die individuelle Zufriedenheit mit einer Zufriedenheit mit Staat und Gesellschaft zu verbinden. Dies mag mit einer zunehmenden sozialen Polarisierung zu tun haben – in dem Sinne, dass sich viele nicht mit anderen Gruppen und Regionen in Deutschland identifizieren oder sich von der Politik nicht ernst genommen fühlen. Einige politische Kräfte versuchen, dieses Gefühl der fehlenden Identität zu nutzen, nicht nur, um Veränderungen herbeizuführen, sondern auch allzu häufig, um gesellschaftliche und vor allem verletzliche Gruppen gegeneinander auszuspielen.
Eine zweite Erklärung für die Diskrepanz mag darin liegen, dass die allgemeine Lebenszufriedenheit heute wenig über die Zukunftssorgen der Menschen aussagt. Nach einer Befragung der Universität Bonn sind 84 Prozent der Menschen in Deutschland überzeugt, dass es ihnen selbst und künftigen Generationen in Zukunft "etwas" oder "wesentlich" schlechter gehen wird.
Eine dritte mögliche Erklärung ist, dass nach wie vor wichtige Unterschiede in der Lebenszufriedenheit bestehen – etwa bei der Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit. Diese ist in den vergangenen 20 Jahren nicht nur kaum gestiegen, sondern sie ist unter Menschen mit geringen Einkommen und interessanterweise auch bei Menschen mit (kleinen) Kindern deutlich geringer. Hier zeigt sich ein klares Defizit in der Daseinsvorsorge. Ohne gute Gesundheit werden Menschen ihre Arbeit kaum als sinnstiftend empfinden und das Einkommen wird kaum zu ihrer Zufriedenheit beitragen.
Wir in Deutschland waren selten zufriedener mit unseren individuellen Lebensverhältnissen als heute. Sowohl die allgemeine Lebenszufriedenheit als auch die spezifische Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit und dem eigenen Einkommen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gestiegen. Vor allem aber hat die Ungleichheit in der Zufriedenheit abgenommen. Dies ist ein wichtiger Erfolg und eine positive Entwicklung, die man nicht stark genug betonen kann – gerade in der heutigen Zeit, in der man das Gefühl hat, die deutsche Gesellschaft befinde sich in einer mentalen Depression.
Dies heißt nicht, dass sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft zurücklehnen können. Sie müssen vielmehr Zukunftsängste ernst nehmen und am gesellschaftlichen Zusammenhalt arbeiten. Das Scheitern von Politik und Gesellschaft in den letzten 20 Jahren bestand nicht darin, den Menschen keine besseren Lebensbedingungen und eine höhere Lebenszufriedenheit ermöglicht zu haben, sondern darin, dass die Zufriedenheit und Identifikation mit der Gesellschaft für viele nachgelassen haben. Mehr Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt sollten daher eine wichtige Priorität für die künftige Politik sein.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Familie , Gesundheit , Wohlbefinden