Blog Marcel Fratzscher vom 7. Oktober 2024
Die AfD hat sich bei der Migrationspolitik im Grunde durchgesetzt: Die verschärfte Migrationspolitik führt dazu, dass viele Deutschland verlassen. Ein riesiger Schaden
Was vor wenigen Jahren undenkbar war, ist nun Realität – Deutschland hat einen Dammbruch in der Migrationspolitik erfahren. Die AfD behauptet nicht zu Unrecht, sie habe ihre Forderung bei der Migrationspolitik durchgesetzt, da die Bundesregierung und Unionsparteien ihre Positionen mittlerweile größtenteils kopieren und umsetzen. Viele realisieren nicht, wie weit diese Annäherung an AfD-Positionen bereits geht.
Es ist nur wenige Jahre her, als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Grenzschließungen kategorisch ablehnte. Noch vor zwei Jahren wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass CDU-Chef Friedrich Merz und CSU-Chef Markus Söder einen radikalen Kurswechsel in der Migrationspolitik fordern würden. Oder eine Bundesregierung unter SPD-Führung einknickt und viele Maßnahmen umsetzt, die vor allem eines bedeuten: Abschiebungen im großen Stil, selbst in Länder wie Afghanistan, oder Grenzkontrollen an allen Außengrenzen.
Aber könnte gar eine von der AfD geforderte ”Remigration” Realität werden?
Diese Kolumne erschien am 3. Oktober 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Zuerst einmal müssen wir uns bewusst machen, dass der von der AfD genutzte Begriff "Remigration" eine perfide Verzerrung der deutschen Geschichte ist. Er wurde ursprünglich für die Rückwanderung von vor dem Naziregime geflohenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt — vor allem Jüdinnen und Juden und auch andere verfolgte Menschen. Nach dem Plan der AfD sollen drei Gruppen aus Deutschland mit Zwang oder Druck verdrängt werden: Asylbewerber, Nicht-Staatsbürger und sogenannte "nicht assimilierte" Staatsbürger, die durch "hohen Anpassungsdruck" und "maßgeschneiderte Gesetze" zur Ausreise gedrängt werden sollen. Somit ist das von der AfD Geforderte keine "Remigration", sondern ein Vertreibungsprogramm.
Dabei war Deutschland zum größten Teil der vergangenen 250 Jahre ein Auswanderungsland. Zwischen 1820 und 1920 sind sechs Millionen Deutsche in die USA ausgewandert, viele andere in europäische Nachbarstaaten oder nach Übersee. Es sind so viele Deutsche in die USA ausgewandert, dass es im US-Kongress im 19. Jahrhundert eine Abstimmung über die offizielle Amtssprache gab und Deutsch dem Englischen nur knapp unterlag. Kurzum, für den größten Teil der deutschen Geschichte in den letzten 250 Jahren haben Deutsche von der Offenheit und der Bereitwilligkeit anderer Nationen profitiert, Deutsche in ihrem Land aufzunehmen. Natürlich sind Deutsche, wie alle anderen Immigranten, oft nicht mit offenen Armen willkommen geheißen worden, aber Deutschland hat heute auch aus dieser Perspektive eine historische Verantwortung.
Mit der Migration Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg und der gezielten Anwerbung von Arbeitskräften aus Südeuropa und der Türkei ab den 1950er-Jahren wandelte sich Deutschland zu einem Einwanderungsland. Jeder vierte Mensch in Deutschland heute hat einen Migrationshintergrund, ist also selbst im Ausland geboren oder hat zumindest einen Elternteil, der aus dem Ausland stammt. Fünf Millionen Menschen hierzulande sind muslimischen Glaubens. Deutschland ist also längst ein Einwanderungsland und der Islam – wie andere Glaubensrichtungen neben dem Christentum – gehört zu Deutschland.
Ein Blick auf die Zahlen und Fakten zeigt, dass Deutschland gleichzeitig auch eine massive Auswanderung erlebt. Im Jahr 2023 sind zwei Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert, aber auch 1,3 Millionen Menschen ausgewandert.
Die größte Gruppe der Auswanderer sind Deutsche – mit fast 300.000 Menschen im Jahr. Und die Zahl der deutschen Auswanderer ist über die letzten 20 Jahren massiv gestiegen und hat sich fast verdreifacht. Es gibt auch eine erhebliche Zahl von deutschen Rückkehrer*innen, aber mit knapp 80.000 netto jährlich ist die Abwanderung von Deutschen erheblich. Auch im europäischen Vergleich verlässt in Deutschland ein ungewöhnlich großer Anteil der Staatsbürger*innen das eigene Land. Die vier stärksten Empfängerländer sind Österreich, die Schweiz, die USA und Großbritannien.
Hinzu kommt die Abwanderung von Asylbewerbern und ausländischen Mitbürgern von fast einer Million. Die vier größten Zielländer sind Rumänien, die Ukraine, Polen und Bulgarien.
Was sind die Gründe für die Auswanderung? Wandert die große Mehrheit wegen Pull-Faktoren aus Deutschland aus, weil es also primär anderswo attraktiver ist? Oder liegt die Erklärung vor allem in den Push-Faktoren, weil viele Menschen sich in Deutschland nicht wohl oder nicht willkommen fühlen – handelt es sich also um eine "Remigration"? Es gibt wenige systematische Studien zu dieser Frage, aber vieles deutet darauf hin, dass sie nicht nur wirtschaftlicher Natur sind. Häufig wird kolportiert, es seien Ärztinnen und Mediziner sowie andere Hochqualifizierte, die in der Schweiz bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter erzielten. Dies ist sicherlich zum Teil zutreffend, aber andere Erklärungen sind genauso wichtig.
Eine weitere vielsagende Tatsache ist, dass die Verweildauer insbesondere von Mitmenschen aus EU-Ländern und von hoch qualifizierten Expertinnen und Experten in Deutschland vergleichsweise gering ist. Es kommen also jedes Jahr recht viele Menschen nach Deutschland, aber auch ungewöhnlich viele verlassen das Land nach recht kurzer Zeit.
Eine Studie des Netzwerks InterNations, einem Verband für Expats, hat ergeben, dass eine fehlende Willkommenskultur einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass hoch qualifizierte Arbeitskräfte sich häufig in Deutschland nicht wohlfühlen und nach recht kurzer Zeit wieder das Land verlassen. Viele finden es ungewöhnlich schwierig, sich in Deutschland zurechtzufinden, soziale Kontakte zu knüpfen, Wertschätzung zu erfahren und die Hürden von Sprache und Bürokratie zu meistern. Ähnliches gilt für viele Deutsche, die im Ausland nicht nur bessere Arbeitsbedingungen suchen, sondern auch eine andere Gesellschaft mit mehr Offenheit und Wertschätzung.
Eine neue Studie des Forschungsinstituts DeZIM zeigt (PDF), wie groß die Sorgen über "Remigration" sind, so auch unter der großen Mehrheit der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Mehr noch, immer mehr Menschen haben konkrete Pläne, Deutschland zu verlassen. Dies trifft auf knapp 19 Prozent aller Menschen aus Nordafrika und 1,9 Prozent aller Deutschen zu, die ins Ausland abwandern wollen, insbesondere als Reaktion auf Fremdenfeindlichkeit und eine fehlende Toleranz und Wertschätzung. Diese Prozentzahl mag gering klingen, bedeutet aber, dass mehr als eine Million Deutsche zurzeit solche konkreten Pläne haben. Im Vergleich geben 3,4 Prozent der Deutschen an, innerhalb Deutschlands in ein anderes Bundesland abwandern zu wollen. Die Sorge, dass eine erhebliche Zahl Deutscher ins Ausland abwandern wird, ist also real – vor allem für junge und gut qualifizierte Menschen.
Die Konsequenzen von Auswanderung sind wirtschaftlich und gesellschaftlich fatal. Bei dem eh schon enormen Fachkräftemangel erfahren Unternehmen einen erheblichen Schaden. Die Wirtschaft verliert an Potenzial, die Gesellschaft an Offenheit, Toleranz und Vielfalt. Studien zu den ostdeutschen Bundesländern zeigen, dass eine fehlende Offenheit und eine starke AfD zu einer hohen Abwanderung von jungen, gut qualifizierten Menschen führen. Dadurch werden auch Unternehmen aus solchen Regionen verdrängt, da sie kaum Fachkräfte finden können.
Das Resultat ist ein Teufelskreis von Abwanderung qualifizierter Menschen und einem Verlust von guten Arbeitsplätzen, Innovationsfähigkeit und Wohlstand. Was für strukturschwächere ostdeutsche Regionen stimmt, gilt auch für Deutschland als Ganzes: Das Problem ist nicht, dass Deutschland zu viel Zuwanderung hat. Sondern dass die Hürden für eine erfolgreiche Integration dieser Menschen zu hoch sind. Und dass die Abwanderung von Deutschen und von Ausländern Wirtschaft und Gesellschaft schwächt und unser Land viel Wohlstand kostet.
Die von der AfD geforderte "Remigration" ist somit bereits Realität. Dies betrifft nicht nur Ausländer, sondern viele Deutsche, die das Land verlassen. Diese tun dies nicht primär wegen fehlender wirtschaftlicher Perspektiven in Deutschland, sondern weil sie in Deutschland nicht die erwartete Offenheit und Willkommenskultur erfahren und sich anderswo bessere Chancen und mehr Wertschätzung versprechen. Die Migrationspolitik trägt mit dazu bei, dass "nicht assimilierte" Deutsche Deutschland als eine weniger lebenswerte Gesellschaft empfinden und den Verlust einer offenen Gesellschaft beklagen.
Alle demokratischen Parteien, die Bundesregierung und auch die Union, tragen die Hauptverantwortung, mit dem Dammbruch in der Migrationspolitik und mit ihrer Unfähigkeit gemeinsam wichtige Reformen vorzunehmen, Deutschland zukunftsfähig zu machen. Anstelle sich gegen den Populismus und gegen die Ausgrenzung von verletzlichen Gruppen zu stemmen und diese zu schützen – von Geflüchteten, über Minderheiten bis hin zu Bürgergeldbeziehenden –, instrumentalisieren sie diese für politische Zwecke. Damit dürfte sich die von der AfD geforderte "Remigration" weiter verstärken.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Migration , Unternehmen