DIW Wochenbericht 42 / 2024, S. 657-663
Gökhan Ider, Alexander Kriwoluzky, Frederik Kurcz, Ben Schumann
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„Der EZB muss die Quadratur des Kreises gelingen, wenn die Inflation in wirtschaftlich schwierigen Zeiten steigt. Zinserhöhungen, die die Inflation eindämmen, belasten die Wirtschaft zusätzlich. Doch unsere Berechnungen zeigen, dass in der jüngsten Inflationswelle der Preisanstieg mit einer frühzeitigen Zinsanhebung schneller gebremst worden wäre und sich die Wirtschaft schon bis letztes Jahr davon erholt hätte.“ Ben Schumann
In der Zeit nach der Corona-Pandemie sah sich die Europäische Zentralbank (EZB) einem beispiellosen Anstieg der Energiepreise gegenüber. Dieser führte zu einer Konsumentenpreisinflation im Euroraum von zeitweise über zehn Prozent, weit über dem EZB-Inflationsziel von zwei Prozent. Gleichzeitig war die Wirtschaft im Euroraum von einer Rezession bedroht, was einen Zielkonflikt zwischen Konjunkturstabilisierung und Inflationsbekämpfung erzeugte. Berechnungen zeigen, dass die geldpolitische Strategie der EZB, die Zinsen niedrig zu lassen, zwar die konjunkturelle Lage verbesserte, aber den Energiepreisanstieg verschlimmerte. Die empirische Analyse belegt, dass eine Zinserhöhung zu Beginn der Energiekrise die Inflation besser stabilisiert hätte. Eine straffere Geldpolitik hätte die Energienachfrage gedämpft und den Euro aufgewertet, wodurch die Energiepreise schneller gesunken wären. Der Euroraum hätte zwar eine kurzlebige Rezession durchlaufen, aber die gesamtwirtschaftliche Lage hätte sich bereits im vierten Quartal 2023 stabilisiert. Gäbe es im Euroraum eine Kapitalmarkt- und Fiskalunion, hätte die EZB ihrem Mandat der Preisstabilität möglicherweise besser folgen können.
Wenige Themen erhitzen die Gemüter in Deutschland so stark wie das Thema Inflation, denn sie trifft jeden einzelnen empfindlich: Das angesparte Geld verliert an Wert und die Reallöhne sinken. Zusätzlich wirkt sich die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB), mit der sie regulär auf die gestiegene Inflation reagiert, unter Umständen drastisch auf die einzelnen Haushalte aus: Kredite für das Eigenheim werden teurer und die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist gefährdet. Deswegen wird heftig darüber gestritten, wie die Inflation am besten einzudämmen ist – wie sonst vielleicht nur bei der Frage, wie die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen Spanien spielen sollte.
Im Kern ist die Frage nach der optimalen Reaktion immer eine Abwägungsfrage zwischen dem Kampf gegen die Inflation auf der einen Seite und den Folgen dieses Kampfes, das heißt einer Dämpfung der wirtschaftlichen Entwicklung und dem damit einhergehenden Anstieg der Arbeitslosigkeit, auf der anderen Seite. Mit dieser Wahl konfrontiert tendieren Politiker*innen meist dazu, eher eine aufkommende Inflation in Kauf zu nehmen, als die realen wirtschaftlichen Konsequenzen tragen zu müssen. Bekanntlich behauptete schon der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 1972: „Fünf Prozent Inflation sind leichter zu ertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“Vgl. zum Beispiel Wolfgang Kaden (2015): Altkanzler Helmut Schmidt: Unser Weltökonom. Spiegel vom 11. November (online verfügbar, abgerufen am 2. Oktober 2024. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht).
Dabei werden die schädlichen Auswirkungen der Inflation auf die Bevölkerung häufig nicht ausreichend in Betracht gezogen. Dazu gehören neben dem Verlust der Kaufkraft des angesparten Geldes die geringere reale Kaufkraft des Gehalts und der Renten bis zu den entsprechenden Anpassungen und die durch die Inflation implizierte Umverteilung von Gläubiger*innen zu Schuldner*innen.
Bei der Gründung der EZB im Jahr 1998 wurde großer Wert auf das Ziel der Preisstabilität und die dafür notwendige Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschehen gelegt. So ist als primäres Ziel der EZB das Preisstabilitätsziel, genauer eine Inflation um zwei Prozent in der mittleren Frist von etwa zwei Jahren, definiert. Die Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation kommt erst im sekundären Ziel der EZB vor. Das Mandat der EZB definiert klar, dass das sekundäre Ziel nur dann verfolgt werden soll, wenn dies „ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität“ und damit ohne Beeinträchtigung des Primärmandats möglich ist.Michael Ioannidis et al. (2021): The mandate of the ECB: Legal considerations in the ECB’s monetary policy strategy review. ECB Occasional Paper Series Nr. 276.
Die Entscheidung der EZB, trotz steigender Inflation die Zinsen im Frühjahr 2022 nicht anzuheben, war daher stark umstritten. EZB-Präsidentin Christine Lagarde begründete diese Entscheidung damit, dass eine Zinserhöhung den Preisanstieg nicht stoppen könne. Hintergrund dieser Aussage war, dass der Preisanstieg im Euroraum hauptsächlich auf die gestiegenen Energiepreise zurückzuführen war. In diesem Kontext, so eine weit verbreitete Meinung, könne eine Zinserhöhung ihr Ziel verfehlen, da sie zwar die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb des Euroraums dämpfe, jedoch keinen Einfluss auf die Energiepreise habe. Diese würden nämlich primär auf dem Weltmarkt bestimmt.Eine DIW-Studie belegt, dass dieser Auffassung fälschliche Annahmen zugrunde liegen und dass die Entscheidungen der EZB durchaus die Energiepreise innerhalb des Euroraums als auch die globalen Energiepreise beeinflussen, vgl. Gökhan Ider et al. (2023): Und sie bewegen sich doch: Energiepreise sinken, wenn Leitzins steigt – trotz gegenläufiger Effekte. DIW Wochenbericht Nr. 8, 87–94 (online verfügbar). Diese Annahme erlaubte es der EZB, trotz ihres Primärmandats und der überbordenden Inflation eine Strategie zu wählen, die die wirtschaftliche Erholung des Euroraums nicht gefährdet.
In diesem Wochenbericht werden mit Hilfe eines Zeitreihenmodells die Auswirkungen dieser geldpolitischen Strategie untersucht. Zudem wird empirisch analysiert, durch welche geldpolitische Strategie die EZB die bestmögliche Antwort auf die steigenden Energiepreise hätte geben können, um die Inflation auf ihrem Zielwert von zwei Prozent zu stabilisieren und welche Auswirkungen diese Strategie für die wirtschaftliche Entwicklung des Euroraums gehabt hätte.
Um die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der von der EZB gewählten geldpolitischen Antwort auf die letzte Inflationswelle zu analysieren, wird ein empirisches Modell verwendet (Kasten 1).Dieser Wochenbericht basiert auf Gökhan Ider, Alexander Kriwoluzky, Frederik Kurcz und Ben Schumann (2024): Friend, Not Foe – Energy Prices and European Monetary Policy. DIW Discussion Papers Nr. 2089 (online verfügbar). Dort findet sich auch eine ausführliche Beschreibung der Methodik. Dieses Modell erfasst die dynamischen Beziehungen zwischen den makroökonomischen Variablen und erlaubt es darüber hinaus, die kausalen Effekte der geldpolitischen Strategie der EZB zu berechnen. Diese Effekte lassen sich wiederum durch das empirische Modell in zwei Teile zerlegen. Darunter fällt zunächst die geldpolitische Regel, die die endogene Komponente der Geldpolitik repräsentiert und beschreibt, wie die Zinspolitik der EZB traditionell systematisch auf Veränderungen der Inflation oder Wirtschaftsleistung reagiert. Darüber hinaus gibt es eine exogene Komponente, die unerwartete Abweichungen von dieser systematischen Regel einbezieht, die als geldpolitische Schocks bezeichnet werden. Dazu gehört zum Beispiel die Entscheidung der EZB, trotz der anhaltenden Auswirkungen der Finanzkrise im April 2011 die Zinsen zu erhöhen.
Für die Analyse wird ein strukturelles vektorautoregressives (SVAR) Zeitreihenmodell verwendet, um zu untersuchen, wie sich die geldpolitischen Entscheidungen der EZB auf die Verbraucherpreise, die Energiepreise und die Industrieproduktion im Euroraum seit Januar 2020 ausgewirkt haben. Mathematisch kann ein solches Modell wie folgt ausgedrückt werden:
Der Vektor Yt gibt dabei den Wert der endogenen Variablen zum Zeitpunkt t an, wohingegen Yt−1 den Wert dieser Variablen in der Vorperiode angibt. Somit hängt die Entwicklung aller Variablen in dem gemeinsamen System von dem Wert der anderen Variablen zum Zeitpunkt t und dem Wert der Variablen in den vorangegangenen p Perioden ab. Charakterisiert werden diese gegenseitigen Interdependenzen durch die Matrizen B und A. Der Vektor εt beschreibt die „strukturellen Schocks“, denen sich die Volkswirtschaft in jeder Periode ausgesetzt sieht und die das dynamische System treiben.
Das SVAR-Modell in diesem Bericht baut auf dem empirischen Modell aus einem früheren Wochenbericht auf und modelliert die gemeinsame Entwicklung von zehn makroökonomischen Variablen.Gökhan Ider et al. (2023): Und sie bewegen sich doch: Energiepreise sinken, wenn Leitzins steigt – trotz gegenläufiger Effekte. DIW Wochenbericht Nr. 8, 87–94 (online verfügbar). Für die Schätzung werden monatliche Daten verwendet. Der Stichprobenzeitraum erstreckt sich von Januar 2002 bis Oktober 2023, einschließlich des Zeitraums der Corona-Pandemie. Um die Auswirkungen pandemiebezogener Faktoren zu berücksichtigen und deren volkswirtschaftliche Effekte abzuschätzen, wird ein speziell dafür entwickeltes Verfahren benutzt.Danilo Cascaldi-Garcia (2022): Pandemic Priors. Board of Governors of the Federal Reserve System International Finance Discussion Papers.
Das SVAR-Modell erlaubt es, die Geldpolitik der EZB und den dazugehörigen Zinspfad in zwei Komponenten zu unterteilen. Die geldpolitische Regel, die die endogene Komponente der Geldpolitik repräsentiert, beschreibt, wie die Zinspolitik der EZB traditionell systematisch auf Veränderungen der Inflation, der Wirtschaftsleistung und andere endogene Variablen reagiert. Darüber hinaus gibt es eine exogene Komponente, die unerwartete Abweichungen von dieser systematischen Regel beschreibt. Diese werden als geldpolitische Schocks bezeichnet.
Um die kausalen Effekte von unterwarteten konventionellen geldpolitischen Schocks und Schocks durch geldpolitische Ankündigungen (Forward Guidance) abzuschätzen, werden die Veränderungen der Finanzmarkt-Erwartungen über kurzfristige Zinsen (drei Monate) und längerfristige Zinsen (zwei Jahre) in einem 30-minütigen Zeitfenster um die geldpolitischen Entscheidungen der EZB gemessen. Wenn sich diese Erwartungen in diesem Zeitfenster verändern, dann gibt es in der Entscheidung der EZB eine unerwartete und damit exogene Komponente, mit der die Finanzmärkte und somit die Firmen und Haushalte nicht gerechnet haben.Für eine genauere Erläuterung der Methode siehe Gökhan Ider et al. (2024): Friend, Not Foe – Energy Prices and European Monetary Policy. DIW Discussion Papers Nr. 2089 (online verfügbar). Auf Basis dieser identifizierenden Annahme erlaubt es die sogenannte historische Zerlegung, die Rolle der exogenen Komponenten und damit die Auswirkungen der Abweichungen von der geldpolitischen Regel zu berechnen.Lutz Killian and Helmut Lütkepohl (2017): Structural Vector Autoregressive Analysis. Cambridge University Press.
In diesem Wochenbericht wird zunächst untersucht, wie sich die europäische Volkswirtschaft ohne die exogene Komponente, das heißt ohne Abweichung von der traditionellen systematischen Geldpolitik entwickelt hätte. Dies gibt Aufschluss darüber, inwiefern die zuletzt gewählte geldpolitische Strategie historisch ungewöhnlich war und was ihre Auswirkungen waren. Im Anschluss daran wird untersucht, welchen Einfluss die optimale Ausgestaltung der endogenen Komponente auf die Entwicklung der Volkswirtschaft gehabt hätte.
Um zu analysieren, ob und wie weit die EZB während der vergangenen Inflationswelle von ihrer traditionellen geldpolitischen Regel abgewichen ist und was die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen dieser Abweichung sind, wird ein Verfahren mit dem Namen „historische Zerlegung“ verwendet (Kasten 1). Dieses ermöglicht es, die Zeitreihen in einen Trend, der von geldpolitischen Schocks und aktuellen kurzfristigen wirtschaftlichen Entwicklungen unabhängig ist, und in Abweichungen von diesem Trend zu zerlegen. Diese Abweichungen können wiederum durch sogenannte „strukturelle Schocks“ erklärt werden. Darunter fallen exogene Ereignisse (zum Beispiel die Corona-Pandemie), überraschende Veränderungen des Angebots von und der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, jedoch auch überraschende geldpolitische Schocks. Die EZB kann zum einen unerwartet die kurzfristigen Zinsen ändern, was allgemein als konventioneller, geldpolitischer Schock bezeichnet wird. Zum anderen kann sie ebenfalls durch eine überraschende Ankündigung zur zukünftigen Geldpolitik die längerfristigen Zinsen beeinflussen, was im Allgemeinen als „Forward Guidance“ bezeichnet wird.
Die Ergebnisse der historischen Zerlegung zeigen, dass die Wirtschaftstätigkeit im Euroraum, gemessen an der Industrieproduktion, im Frühjahr 2020 drastisch zurückging und weit unterhalb des Trends lag. Das Modell führt dies auf die Folgen der Corona-Pandemie zurück (Abbildung 1). Die EZB reagierte auf diese außergewöhnlichen Umstände und verabschiedete überraschende, expansive geldpolitische Maßnahmen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anzukurbeln und die Erholung der europäischen Wirtschaft zu stützen. Dazu gehört der enorme Umfang des Corona-Notfallprogramms (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP). Die Auswirkungen der mit diesen Maßnahmen verbundenen geldpolitischen Schocks waren während der ersten zwei Jahre der Pandemie durchweg stark positiv (Abbildung 1). Ohne die expansive Politik der EZB wäre die Industrieproduktion um bis zu 2,5 Prozent niedriger gewesen und die wirtschaftliche Erholung hätte wesentlich länger gedauert.
Der anhaltend expansive geldpolitische Kurs der EZB unterstützte jedoch nicht nur die wirtschaftliche Erholung, sondern spielte auch eine wichtige Rolle beim Inflationsanstieg nach der Pandemie. Anfang 2020 ging die Inflation im Euroraum aufgrund der Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaftstätigkeit zunächst zurück, nahm aber rasch wieder zu, da die expansive Geldpolitik, die Aufhebung der Abschottungsmaßnahmen und andere Faktoren zu einer schnellen wirtschaftlichen Erholung führten. Anfang 2022 hatte die Inflation das EZB-Ziel von zwei Prozent um bereits mehr als drei Prozentpunkte überschritten und stieg im Anschluss auf ein noch nie dagewesenes Niveau. Die Analyse auf Basis der historischen Zerlegung zeigt zwar, dass in erster Linie pandemiebedingte Faktoren und andere nicht monetäre Schocks, wie die Verknappung des russischen Energieangebots seit dem Herbst 2021 und der russische Angriffskrieg in der Ukraine im Februar 2022, für den Inflationsanstieg verantwortlich waren. Die expansive Geldpolitik der EZB spielte aber auch eine wichtige Rolle.
Insbesondere die ausbleibende Reaktion der EZB auf den Anstieg der Inflation stellte eine Abweichung von der geldpolitischen Regel dar. Somit war die von der EZB während der Inflationswelle 2022 gewählte Geldpolitik ungewöhnlich expansiv. Die Ergebnisse zeigen, dass ohne die Abweichung von der empirisch geschätzten, traditionellen geldpolitischen Regel die Inflation der Energie- und Konsumentenpreise um einiges geringer ausgefallen wäre. Beispielsweise im Oktober 2022, als die Konsumentenpreisinflation acht Prozentpunkte über ihrem Zielwert von zwei Prozent lag, sind knapp 1,8 Prozentpunkte dieses Anstiegs auf geldpolitische Schocks zurückzuführen und somit hausgemacht. Ähnlich verhält es sich bei den Energiepreisen, wo beispielsweise im Januar 2022 bis zu fünf Prozentpunkte des beobachteten Preisanstiegs von 30 Prozent auf überraschend expansive geldpolitische Maßnahmen zurückzuführen sind.
Während die vorherige Analyse Aufschluss über die Bedeutung der unerwarteten, exogenen Komponente der Geldpolitik während der letzten Inflationswelle gibt, betrachtet der zweite Teil des Wochenberichts die endogene Komponente, also die systematische Reaktion der Zinsen auf Veränderungen in der Volkswirtschaft. Diese Komponente spielt vor allem für die Erwartungen der Firmen und Haushalte über die gesamte künftige wirtschaftliche Entwicklung eine große Rolle. So werden Preise und Löhne in Anbetracht der zu erwartenden Inflation gesetzt beziehungsweise verhandelt. Gleichzeitig entscheiden Firmen und Haushalte über längerfristige Investitionen und Konsum und antizipieren dabei die künftige Zins- und Wirtschaftslage. Wenn nun die Geldpolitik systematisch so agiert, dass die Haushalte und Firmen fest davon überzeugt sind, dass die Zentralbank Abweichungen der Inflation von ihrem Zielwert entschlossen entgegentritt, werden sie keine hohen Inflationsraten erwarten und ihre Erwartungen über die zukünftigen Zinsen sowie ihre Konsum- und Investitionsentscheidungen entsprechend anpassen.
Für die folgende Analyse wird unterstellt, dass die EZB sich ausschließlich auf ihr Primärmandat der Preisstabilität konzentriert und es keine Abweichungen von diesem Ziel gibt. Das bedeutet, dass sie die kurz- und längerfristigen Zinsen so beeinflusst, dass die Inflation in der mittleren Frist bei zwei Prozent liegt – und alles andere, wie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, ausblendet. Die Analyse basiert auf einem empirischen Modell, das die Frage beantworten kann, wie sich die Wirtschaft im Euroraum entwickelt hätte, wenn sich die EZB vornehmlich auf ihr Primärmandat und damit auf ein Inflationsziel von ungefähr zwei Prozent fokussiert hätte (Kasten 2).
Für die Berechnung der wirtschaftlichen Entwicklung unter mandatsoptimaler Geldpolitik wird unterstellt, dass die EZB ihre systematische Zinspolitik und damit ihre geldpolitische Regel so wählt, dass sie ihr Primärmandat der Preisstabilität optimal erfüllen will. Dies bedeutet, dass sie die Abweichungen von ihrem Inflationsziel von zwei Prozent minimieren möchte. Dies lässt sich in einer Verlustfunktion ausdrücken:
Diese Funktion kumuliert die Abweichung der Inflation von dem Ziel von zwei Prozent, wobei die verschiedenen Gewichte (wi) so gewählt werden, dass Abweichungen der Inflation in der „mittleren Frist“ ein besonders hohes Gewicht zuteilwerden. Dadurch wird die Tatsache berücksichtigt, dass die EZB ihr Primärmandat als Preisstabilität in der „mittleren Frist“ definiert, wobei als „mittlere Frist“ in der Praxis vier bis sechs Quartale angesehen werden. Mithilfe empirischer Methoden lässt sich daraus eine optimale geldpolitische Regel errechnen.Tomas E. Caravello et al. (2024): Evaluating Policy Counterfactuals: A VAR-Plus Approach. NBER Working Paper 32988. Auf deren Basis lässt sich simulieren, wie sich die Volkswirtschaft des Euroraums ab April 2021 entwickelt hätte, wenn das erklärte Ziel der EZB wäre, optimal das Primärmandat zu erfüllen. Dies bedeutet, dass auch in diesem Szenario die Wirtschaft weiterhin den gleichen exogenen Schocks ausgesetzt wäre, worunter die Corona-Pandemie und auch die Energiepreiskrise fallen. Die EZB reagiert jedoch anders auf diese Ereignisse, weshalb sich die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen dieser exogenen Schocks verändern. Gleichzeitig beeinflusst die alternative Geldpolitik der EZB selbst ohne die dadurch entstehende Veränderung der Effekte der neuen exogenen Schocks die bereits bestehende wirtschaftliche Entwicklung. Dies liegt daran, dass eine Veränderung der geldpolitischen Regel ebenfalls Einfluss auf bereits vor dieser Veränderung angestoßene dynamische Anpassungsprozesse innerhalb der Volkswirtschaft hat. Aus der Summe dieser Reaktionen auf neue exogene Schocks und den bereits bestehenden dynamischen Anpassungsprozessen ergibt sich ein Zinspfad für den kurz- und längerfristigen Zins, der die gesamtwirtschaftliche Lage und die Finanzmärkte beeinflusst und schließlich dazu führt, dass die EZB ihr Primärmandat optimal erfüllt.Für eine genauere Erläuterung der Methode siehe Ider et al. (2024), a.a.O.
Auch in diesem kontrafaktischen Szenario ist die Wirtschaft weiterhin den gleichen Schocks ausgesetzt: Die Corona-Pandemie und auch die Energiepreiskrise treffen auf die Volkswirtschaft; die EZB reagiert jedoch systematisch nur entsprechend ihrem Mandat der Preisstabilität auf diese Ereignisse. Aus dieser Reaktion ergibt sich ein Zinspfad für den kurz- und längerfristigen Zins (Abbildung 2, oben), der die gesamtwirtschaftliche Lage und die Finanzmärkte beeinflusst und schließlich dazu führt, dass die EZB ihr Primärmandat optimal erfüllt (Abbildung 2, Mitte).
Die Entwicklung der Zinssätze, die sich aus der mandatsoptimalen Politikregel ergeben, unterscheidet sich stark von der tatsächlichen Zinsentwicklung. Insbesondere hätte die EZB eine anfänglich kräftige Zinserhöhung durchführen müssen, indem sie sowohl den kurzfristigen als auch den längerfristigen Zins um bis zu 100 Basispunkte erhöht. Dadurch, so zeigen es die Berechnungen, hätte die EZB den starken Anstieg der Inflation verhindern können.
Zum einen liegt dies daran, dass die Zinspolitik der EZB, konträr zu den zuvor beschriebenen Annahmen der EZB, direkte Auswirkungen auf die Energiepreise hat und sich die höheren Zinsen sehr schnell in merklich geringeren Energiepreisen niederschlagen. So hätte die Änderung des geldpolitischen Kurses die Energienachfrage des Euroraums stark gesenkt und gleichzeitig den Euro aufgewertet, was die Energiepreisinflation im Euroraum weiter gedämpft hätte.Ider et al. (2023), a.a.O. Zum anderen hätte die Ankündigung, dass die EZB eine Politik verfolgen wird, die primär und energisch darauf abzielt, die Inflation bei zwei Prozent zu stabilisieren, auch dazu geführt, dass die Inflationserwartungen nicht so stark gestiegen wären. Dies wiederum hätte den Inflationsdruck gesenkt, da unter anderem Produzenten geringere zukünftige Kosten prognostiziert hätten. Aufgrund der weniger stark gestiegenen Inflation hätte die EZB dann das höhere Zinsniveau ab 2023 vermieden.
Die Änderung des geldpolitischen Kurses hätte allerdings zu einem anfänglich stärkeren Produktionsrückgang, gemessen an der Industrieproduktion, geführt. Unter Berücksichtigung der relativen Volatilität des Bruttoinlandsprodukts und der Industrieproduktion ergibt sich, dass das Bruttoinlandsprodukt am tiefsten Punkt der Krise ungefähr drei Prozent unter dem tatsächlich realisierten Niveau gelegen hätte, wenn die EZB die Inflation bei ungefähr zwei Prozent stabilisiert hätte (Abbildung 2). Allerdings wäre dieser wirtschaftliche Einbruch kurzfristig gewesen. Bereits zum Ende des Jahres 2023 wäre die gesamtwirtschaftliche Produktion wieder zu ihrem tatsächlichen Niveau zurückgekehrt. Somit zeigt sich, dass der Zielkonflikt, dem sich die EZB in der Energiekrise gegenübersah, nur von kurzfristiger Natur gewesen wäre. Grund für dieses überraschende Ergebnis ist, dass die EZB die Energiepreise entgegen ihrer eigenen Aussage und Annahme direkt beeinflussen kann: durch eine Dämpfung der Energienachfrage und eine Aufwertung des Euro.Ider et al. (2023), a.a.O.; Alexander Roth und Felix Schmidt (2023): Not only a mild winter: German consumers change their behavior to save natural gas. Joule 7 (6), 1081–1086 (online verfügbar). Demnach hätte die EZB den energiepreisgetriebenen Anstieg der Inflation entgegenwirken können, ohne damit die Konjunktur längerfristig abzuschwächen und Arbeitslosigkeit zu kreieren.
Die Ergebnisse des Wochenberichts deuten darauf hin, dass die EZB mit ihrem zögerlichen Handeln zu einem weiteren Anstieg der Preise beigetragen hat. Dazu gehören sowohl die exogenen Komponenten, die den Preisantrieb befeuert haben, als auch die abwartende Reaktion der EZB. Mit einem strikteren und vor allem energischeren geldpolitischen Kurs hätte die EZB nicht nur die zweistelligen Inflationszahlen verhindern können. Sie hätte auch nur eine kurze Rezession in Kauf nehmen müssen – in Zeiten, in denen die Pandemie und der Angriffskrieg in der Ukraine die Wirtschaft ohnehin stark geschwächt hatten. Diese Kosten wollte die EZB an der Stelle wohl nicht eingehen. Zudem mag sie dazu auch die Sorge um die Stabilität des Finanzsektors veranlasst haben, die Zinsen nicht zu schnell anzuheben. Die Tatsache, dass die EZB von der falschen Annahme ausging, dass sie die Energiepreise nicht beeinflussen kann, erlaubte ihr womöglich diesen politischen Spagat zwischen ihrem Primärmandat der Preisstabilität und der Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Lage im Euroraum.
Letztendlich zeigt die Analyse aber auch, dass die EZB ihrem primären Mandat der Preisstabilität in dem damaligen Umfeld nur schwer nachkommen konnte. Denn dafür hätte sie auch die Freiheit gebraucht, nicht die wirtschaftliche Lage in den größten europäischen Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich und Italien sowie deren Staatsschulden und vor allem deren Finanzmärkte berücksichtigen zu müssen, wenn sie die Zinsen erhöht. Diese Freiheit hat die EZB aber nicht, da die Euroländer weit entfernt davon sind, bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik an einem Strang zu ziehen. Stattdessen obliegt es der EZB, eine Wirtschaftspolitik für den gesamten Euroraum durchzuführen und dabei die diversen Konstruktionsfehler der gemeinsamen Währung zu kaschieren.Auch der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi machte kürzlich ähnliche Verbesserungsvorschläge, vgl. Mario Draghi (2024): The future of European competitiveness. Europäische Kommission vom 9. September (online verfügbar). Dazu gehören zuallererst die fehlende Kapitalmarktunion und die fehlende fiskalische Union mit einem gemeinsamen sicheren Wertpapier für alle Euroländer. Nur dann wird sie Inflation künftig wirkungsvoll bekämpfen können – sonst bleibt es bei der berühmten Quadratur des Kreises als Herausforderung für die EZB.
Themen: Ressourcenmärkte, Konjunktur, Geldpolitik, Europa, Energiewirtschaft
JEL-Classification: C32;E31;E52;Q43
Keywords: monetary policy, inflation, energy prices, optimal policy
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-42-3