Außergewöhnliche Förderung für innovative Forschung

Die beiden Forscher Philipp Lersch und Hannes Ullrich vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) wurden vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit einem der renommiertesten Forschungsstipendien Europas ausgezeichnet. Lersch untersucht in seinem Projekt WEALTHTRAJECT, wie sich Vermögen über den Lebensverlauf verschiedener sozialer Gruppen entwickelt und welche Faktoren zur Ungleichheit beitragen. Ullrich erforscht in seinem Projekt ABRSEIST, warum der Einsatz von Antibiotika in der medizinischen Praxis oft ineffizient ist – und wie künstliche Intelligenz helfen kann, Diagnosen zu verbessern. Im Interview sprechen sie über die Chancen des ERC Grants, interdisziplinäre Zusammenarbeit und gesellschaftlich relevante Forschung.

Was ist ein ERC-Grant und warum ist es so eine immense Auszeichnung, einen zu bekommen?

Hannes Ullrich: Der Europäische Forschungsrat (ERC) fördert Forschung, die einen hoch-riskanten und hoch-ambitionierten Charakter hat. Damit unterscheidet er sich von den meisten anderen Forschungsförderern, die stark darauf achten, dass der geplante Output generiert wird. Daher tritt beim ERC die erwartete Größe des Innovationsschrittes in den Vordergrund. Da die Gelder sehr großzügig und flexibel einsetzbar sind und über eine vergleichsweise lange Zeit von fünf Jahren planbar sind, bewerben sich viele starke Forscherinnen und Forscher für diese Förderung. Nur 10 bis 15 Prozent aller Bewerber*innen erhält die Förderung.

Philipp Lersch: Das Bewerbungsverfahren ist recht aufwendig und umfangreich und umfasst einen schriftlichen Teil aber auch ein Interview mit vielen Mitbewerber*innen. Weil die Chance, die Förderung zu erhalten, relativ klein ist, sind die Auszeichnung und Freude entsprechend groß, wenn man zu den Ausgewählten gehört.

Der ERC Grant wird für besonders innovative Forschung vergeben.
© DIW Berlin

Was bedeutet die Förderung mit dem ERC Grant für Sie persönlich und für Ihre Forschung?

Lersch: Die Förderung erlaubt es mir, mich auf mein Forschungsvorhaben zu konzentrieren und dabei mit tollen Kolleg*innen gemeinsam im Team herausfordernde Fragestellungen anzugehen, um neues Wissen zu schaffen.

Ullrich: Das besondere an einem ERC Grant ist, dass man Gelder für eine lange Zeit einplanen und sie zur Zielerreichung äußerst flexibel einsetzen kann. Damit hat man eine richtige Chance, ein kleines Team aufzubauen und größere, risikoreichere Unterfangen anzugehen. In meinem Fall hat das bedeutet, dass ich ziemlich komplexe Administrativdaten zusammenführen und Methoden entwickeln konnte, um Forschungsfragen an der Schnittstelle zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Medizin durchzuführen. Hierbei war ich auf langfristige Beziehungen zu und Kooperationen zwischen den Disziplinen angewiesen. Ohne den notwendigen langen Atem, und die entsprechenden Mittel, die diesen ermöglichen, wäre diese Forschung kaum möglich gewesen.

Worum geht es in Ihrem Forschungsprojekt, für das Sie die Förderung erhalten haben?

Lersch: Ausgangspunkt des Projekts ist die große Vermögensungleichheit in vielen Ländern. Um die aktuellen Entwicklungen und Trends genauer zu analysieren, reichen statische und am Durchschnitt orientierten Methoden der bisherigen Vermögensforschung nicht aus. Stattdessen wird unser Projekt WEALTHTRAJECT erstmals die Vermögensentwicklung und Abweichungen von typischen Entwicklungen über den gesamten Lebensverlauf hinweg erforschen, und zwar bezogen auf verschiedene soziale Gruppen. Dabei interessiert es uns besonders, wie soziale Verhältnisse und Bedingungen das Vermögen von Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten in ihrem Leben prägen.

Auch in Deutschland herrscht eine große Vermögensungleichheit.
© DIW Berlin

Ullrich: In meinem Forschungsprojekt versuchen wir zu verstehen, weshalb die Verwendung von Antibiotika in der Humanmedizin nach wie vor so ineffizient ist. Das heißt: Warum werden Antibiotika oft verwendet, wenn sie gar nicht notwendig wären, und nicht verwendet, wenn sie hilfreich wären. Das ist wichtig, da der falsche Einsatz von Antibiotika zu einer steigenden Anzahl gefährlicher antibiotika-resistenter Bakterien in der Bevölkerung führen kann. In meinem Projekt forsche ich zur Optimierung des Antibiotikaeinsatzes. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Verwendung von Daten und maschinellem Lernen, dass die diagnostische Information in der Allgemeinmedizin verbessern kann.

Warum ist dieses Thema gerade jetzt, bzw. als Sie es beantragt haben, gesellschaftlich und wissenschaftlich besonders relevant?

Ulrich: Gesellschaftlich ist das Thema besonders relevant, da es jährlich mehrere Millionen Todesfälle weltweit gibt, die durch Antibiotikaresistenzen verursacht werden. Dies entspricht in etwa einer Covid-Pandemie, die alle 7 Jahre stattfindet. Kann die Antibiotikanutzung nicht nachhaltig verbessert werden, wird sich das Problem der Antibiotikaresistenzen Schätzungen nach deutlich verschlimmern.

Lersch: In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Vermögensungleichheit in vielen Ländern stark zugenommen und verbleibt seit einigen Jahren auf hohem Niveau. Diese Ungleichheit wurde von der Forschung lange ausgeblendet, u.a. weil keine guten Daten zur Verfügung standen. Die Dateninfrastruktur hat sich aber mittlerweile so verbessert, dass wir endlich die dynamischen Prozesse untersuchen können, die der Vermögensungleichheit zugrunde liegen.

Welche Methoden oder Daten nutzen Sie, um Ihre Fragen zu untersuchen? Und welche Rolle spielt die Förderung dabei? Was können Sie dank der Förderung machen, was Sie sonst in Ihrer Forschung nicht machen könnten?

Lersch: Wir nutzen neue statistische Methoden, die es uns erlauben, Veränderungen im Leben der Menschen nachzuzeichnen. Dabei arbeiten wir auf der Basis von vorhandenen Längsschnittdaten wie dem SOEP und nutzen auch Registerdaten aus Norwegen und den Niederlanden. Im Projekt werden außerdem neue biographische Daten gesammelt durch das SOEP Innovation Panel. Dadurch können Vermögensgewinn und -verlust während des Lebensverlaufs detaillierter abgebildet werden, als es bisher der Fall war. Die Datensammlung und die internationale Zusammenarbeit für die Registerdaten werden durch die Förderung ermöglicht.

Ullrich: In meinem Projekt benutzen wir eine Mischung von Methoden, von statistischer Entscheidungstheorie und ökonomischer Theorie, Mikroökonometrie, bis zu maschinellem Lernen und Survey-Experimenten. Diese Methoden wenden wir auf eine Datenbasis an, für die wir eine ganze Reihe von administrativen Individualdaten mit medizinischen Labordaten verknüpfen konnten. Diese Daten stammen aus Dänemark, und so bearbeiten wir unsere Forschungsfragen auch im Kontext des dänischen Gesundheitssystems. Der Grund hierfür ist unter anderem, dass verknüpfte Daten dieser Art in Deutschland für die Forschung noch nicht zugänglich sind.

© Unsplash/Laurynas Mereckas

Welche konkreten Erkenntnisse erhoffen Sie sich von Ihrem Projekt, bzw. welche konnten Sie bereits gewinnen?

Ullrich: Unser Projekt steht kurz vor dem Abschluss, wir konnten viele wichtige Erkenntnisse gewinnen: Zunächst konnten wir zeigen, wie wichtig Diagnose- und Behandlungsweisen von Allgemeinärzt*innen für den Antibiotikaverbrauch sind. Sogar in Dänemark, das als Vorreiter beim Antibiotikaverbrauch und der entsprechenden Politik gilt, konnten wir messen, dass es große Unterschiede zwischen Allgemeinarztpraxen in den Intensitäten der Antibiotikaverwendung gibt, die sich nicht durch medizinische Notwendigkeiten begründen lassen. Wir fanden Hinweise darauf, dass die Diagnosequalität sich stark zwischen Praxen unterscheidet. Auf der Suche nach Lösungen konnten wir, aufgrund der Größe und Reichhaltigkeit unserer Daten, untersuchen, inwieweit maschinelles Lernen mit diesen Daten dabei helfen könnte, die Diagnosen zu verbessern. Wir stellten fest, dass die Vorhersagen des maschinellen Lernens die diagnostischen Informationen, die Allgemeinärzt*innen durch Gespräche und Untersuchungen in der Praxis sammeln, zu ergänzen scheinen. Somit kann künstliche Intelligenz ein wertvolles Instrument sein, um die Diagnosequalität für Infektionen zu verbessern.

Lersch: Das Projekt soll die Vielfalt von Vermögensverläufen über den Lebenslauf sichtbar machen, indem typische Muster wie frühe Aufstiege, späte Einbrüche oder stagnierende Entwicklungen identifiziert und die Phasen bestimmt werden, in denen sich Unterschiede besonders vergrößern oder verringern. Zweitens werden die intragenerationalen Treiber dieser Verläufe herausgearbeitet, darunter Erwerbsverläufe und Arbeitslosigkeit, Partnerschafts- und Familienereignisse, Gesundheits- und ökonomische Schocks, Wohn- und Immobilienentscheidungen sowie Erbschaften und Schenkungen im Zusammenspiel mit institutionellen Rahmenbedingungen. Drittens untersucht das Projekt die intergenerationalen Zusammenhänge zwischen familiärer Herkunft und Vermögenspfaden, klärt über welche Kanäle – etwa finanzielle Transfers, Bildungs- und Netzwerkeffekte oder Wohnortwahl – Herkunft wirkt, und ob sich diese Herkunftsunterschiede im Zeitverlauf verstärken oder abschwächen.

Auch Partnerschafts- und Familienereignisse wie Heirat oder Kinder haben Einfluss auf das Vermögen.
© DIW Berlin

Wie könnten Ihre Ergebnisse Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft beeinflussen?

Lersch: Aus unseren Befunden zur Vermögensverteilung erwarten wir politikrelevante Implikationen, etwa die Identifikation kritischer Zeitfenster für wirksame Maßnahmen zum Vermögensaufbau früh im Erwerbsleben, zur Absicherung gegen Risiken, zur fairen Förderung von Wohneigentum und zur gerechten Ausgestaltung von Erbschafts- und Schenkungsregeln.

Ullrich: Ich denke zwei Dinge sind hier am wichtigsten: Zum einen konnte das Projekt die Relevanz der Antibiotikaresistenz und des Antibiotikaverbrauchs im Gesundheitssystem noch einmal etwas stärker in den Vordergrund bringen. Insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften ist dies noch ein zu wenig beforschtes Thema. Zum anderen konnten wir einen wichtigen und gut geeigneten Anwendungsfall für die Datennutzung und künstliche Intelligenz identifizieren und aufzeigen – das war mir im Voraus gar nicht so klar. Hier gibt es in der Zukunft auch noch viel zu tun, damit wir als Gesellschaft Werkzeuge der künstlichen Intelligenz zielführend entwickeln und nutzen können.

Herr Ullrich, was haben Sie während der Förderung für das Projekt erlebt? Hat Sie da etwas erstaunt?

Ullrich: Es war beeindruckend, wie sehr der ERC-Stempel als Türöffner über die Disziplinen hinweg helfen kann. Insgesamt habe ich viel über interdisziplinäres Arbeiten gelernt und von einigen Akteuren auch viel Interesse hierfür erlebt. Ich denke, Medizin und die Wirtschaftswissenschaften können viel voneinander lernen und miteinander erreichen, gerade mit den zügigen technologischen Veränderungen, die wir gerade erleben. Ich habe bei Medizinern einige Offenheit hierfür erlebt, obwohl wir leider auch auf ernüchternde und aus meiner Sicht eher unnötige interdisziplinäre Barrieren gestoßen sind. Aber auch ganz praktisch habe ich in dem Projekt noch mehr über die Möglichkeit der Datennutzung in Dänemark gelernt und ich hoffe sehr, dass wir in Deutschland bald an einen ähnlichen Punkt, oder noch weiter, kommen.

Herr Lersch, worauf freuen Sie sich in den kommenden Jahren Projektlaufzeit am meisten?

Lersch: Es macht großen Spaß, mit meinem Team dicke Bretter zu bohren und dabei gemeinsam voranzukommen in unserem Verständnis der Entstehung von Vermögensungleichheiten.

Wie unterstützt Sie das DIW Berlin bei der Durchführung Ihrer Projekte?

Ullrich: Als Heimatinstitution hat mir das DIW sehr viele Freiheiten gegeben, meine Arbeit und Forschung so zu gestalten, wie ich es als am produktivsten erachtet habe.

Lersch: Die SOEP-Gruppe ist ein hervorragender Forschungsstandort. Die einzigartige Datenlage und die Zusammenarbeit mit anderen Vermögensforscher*innen bieten eine ideale Plattform für mein Projekt. Die Forschungsmanager*innen am SOEP helfen mir dabei, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Welche offenen Fragen möchten Sie nach Abschluss des Projekts noch weiter erforschen?

Ullrich: Aus dem Projekt haben sich eine ganze Reihe an Folgefragen ergeben, die ich nun noch weiterbearbeiten möchte. So können wir noch genauer untersuchen, warum sich Allgemeinarztpraxen in ihren Diagnostik- und Behandlungsstilen so unterscheiden. Zudem würde ich gerne noch näher an die Entscheider*innen in der klinischen Praxis herankommen, zum Beispiel anhand von Feldstudien, für die wir in Dänemark bereits einige Grundsteine gelegt haben. Aber auch in Deutschland wären mehr solcher Arbeiten wünschenswert, da wir gerade im Bereich KI mehr und besser experimentieren und evaluieren müssen. Nur so können wir zügig über Nutzen und Risiken lernen, und somit auch eine qualifiziertere Diskussion über politische Maßnahmen und Regulierungen führen. Dies gilt nicht nur im medizinischen Bereich, sondern in der Breite der Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Nur durch aktives Lernen behalten wir die Kontrolle über die immer wieder atemberaubenden und vielversprechenden technologischen Entwicklungen, die eben auch Unsicherheit, Veränderung und neue Gestaltungsspielräume mit sich bringen.

Lersch: Diese Liste wird jeden Tag länger. Aber jetzt konzentriere ich mich auf die aktuelle Arbeit.

Die Fragen stellte Lena Högemann.

Kontakt zu den Experten

Hannes Ullrich
Hannes Ullrich

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Unternehmen und Märkte

Philipp M. Lersch
Philipp M. Lersch

Leiter der Forschungsgruppe „Life Course and Inequality“ in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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